La Grande-Motte: futuristische Ferienarchitektur

Die bis heute futuristisch anmutende Planstadt an der französischen Mittelmeerküste La Grande-Motte vereint viele Ideen moderner Stadt- und Tourismusentwicklung. Das Beton-Gesamtkunstwerk ist ein Meilenstein moderner Architektur. Und es macht Spaß, es zu fotografieren!

La Grande Motte: Ich wusste schon als Kind davon – weil man sich mit Grausen zuraunte, was für einen furchtbaren eckigen Koloss die Franzosen da mitten in ein Sumpfgebiet gesetzt hätten. Schlimm! Massentourismus! Bloß einen Bogen drum machen. Dann habe ich zwei Jahre lang in den Pyrénées-Orientales an der spanischen Grenze gelebt und kam auf meinen Wegen nach Montpellier immer wieder daran vorbei. Scheuklappen aufgesetzt – und schnell weitergefahren. Was für eine Ignoranz! Und heute ist La Grande-Motte nicht mehr um die Ecke – jetzt, wo ich mich brennend für die Formensprache und überhaupt, das Urlaubsflair mit pyramidenförmigen Gebäuden, Palmen und Meer interessiere.

L’Eden von 1974, ein besonders beliebtes Fotomotiv direkt am Hafenbecken neben der Grande Pyramide.

Gucken wir mal ein bisschen auf die Geschichte und den Aufbau von La Grande Motte. Die Bilder sind alle innerhalb weniger Stunden an einem Tag im Frühsommer 2024 entstanden.

Den Tourismus ankurbeln in Zeiten des Wirtschaftsaufschwungs

La Grande Motte wurde in den späten 1960er Jahren gegründet. Die Region war damals noch stark landwirtschaftlich – besonders vom Weinbau – geprägt, und die französische Regierung suchte nach einer Möglichkeit, den Tourismus entlang der Küste zu anzukurbeln. Denn mit wachsendem Wohlstand in der Nachkriegszeit und der Einführung gesetzlicher Ferien für Arbeiter brauchte es auch Orte, wo die Arbeiterschaft sich erholen konnte. Das Recht auf zwei Wochen Urlaub gab es schon seit 1936, aber ich nehme an, dass es der Wirtschaftsaufschwung war, der dieses auch mit dem Wunsch – und der Möglichkeit – zu reisen erfüllte.

Denn auch in Frankreich gab es ein Wirtschaftswunder, man nennt es die glorreichen 30, les Trente Glorieuses. Das deckt etwa die Jahre 1945 bis 1975 ab. Die Zeitschrift Espazium beschreibt  sehr schön, warum La Grande-Motte sich so gut in diese Epoche des Aufbruchs einfügt: „Es war auch die Zeit der Unabhängigkeit vieler Kolonien Frankreichs und der moralischen, künstlerischen, wissenschaftlichen Revolutionen und Umwälzungen – die politische stand unmittelbar bevor. Nicht jede Befreiungsbewegung triumphierte, aber insgesamt kündigten sie eine neue Zeit an, für die La Grande Motte formal, funktional und bezüglich der Geschwindigkeit seiner Entstehung in der erste Etappe repräsentativ erscheint.“

Mein erster Eindruck, nachdem ich das Auto abgestellt hatte. Was für ein Urlaubsanblick! Diese Gebäude östlich des Hafenbeckens wurden als erste Pyramiden 1968 fertig und erregten – zu Recht! – Staunen und Bewunderung bei den Besucher*innen.

Mission: Bauen. Aber erstmal müssen hier die Mücken weg!

Für die planvolle Erschließung und (massen-)touristische Entwicklung der westlichen Mittelmeerküste, grob gesagt zwischen Camargue und spanischer Grenze, setzte Frankreich die „Mission Racine“ auf. Die Mission interministérielle d’aménagement touristique du littoral du Languedoc-Roussillon, Abkürzung MIALR; deutsch etwa „Interministerielle Arbeitsgruppe für die touristische Küsten-Infrastruktur des Languedoc-Roussillon“. Die Mission wirkte von 1963 bis 1983, also im Wesentlichen während der gesamten Bauzeit von La Grande-Motte.

Eine kleine Reihe von Geschäften zwischen Hafenbecken und großer Pyramide. Hier gibt’s nicht nur Fische, sondern auch nautischen Bedarf. Auch hier sieht man die Liebe zum Detail.

Erste Maßnahme war die „Démoustication“ – Maßnahmen zur Reduzierung oder Eliminierung von Mückenpopulationen in diesem von Sumpfgebieten und Brackwasserseen geprägten Küstenabschnitt. Erst dann ging es los. Das sind die großen Urlaubsarchitekturen mit insgesamt 500.000 Betten, die im Rahmen der Mission Racine entstanden:

Port-Camargue (Gard)
Grau-du-Roi (Gard)
La Grande-Motte (Hérault)
Le Cap d’Agde (Hérault)
Gruissan (Aude)
Port Leucate (Aude)
Port Barcarès (Pyrénées-Orientales)
Saint-Cyprien (Pyrénées-Orientales)

Point Zéro ist das einzige Gebäude, das sein Herz aus Beton nach außen trägt. Man ahnt zwar aufgrund der vielen skulpturalen Elemente, dass die ganze Stadt aus Beton errichtet wurde, aber nur hier sieht man es. Der Bau markiert den Aufbruchsgeist und den Startpunkt von La Grande-Motte. 1967.

La Grande-Motte: Planstadt aus dem Nichts

Die Mücken sind weg, die Bagger rollen an. Und dann geht alles sehr schnell: 1963 startet die Mission Racine, 1967 beginnt der Bau in La Grande-Motte mit Aushub des Hafenbeckens und der Schaffung des Point Zéro, des Gebäudes, das den Startpunkt markiert. Schon ein Jahr später kommen die ersten sonnenhungrigen Urlauber*innen. 1973 endet mit der Großen Pyramide am Hafenbecken der erste Bauabschnitt. Die Stadt ist komplett in ihren Funktionen und erhält im Folgejahr auch den Titel als selbständige Gemeinde. 1983 folgt der Kongresspalast und auch einige ergänzende Infrastrukturelemente wie Schulen, weil es ja nicht nur Feriengäste gibt, die hier leben. Montpellier ist nur 30 Kilometer entfernt und manch einer zieht ganz nach La Grande-Motte.

Leider habe ich mir nicht gemerkt, in welchen Eingang ich hineingeschlüpft bin, um dieses Bild zu machen. Aber ich habe mich sehr gefreut zu sehen, dass die Gebäude auch innen mit Wertschätzung für den Bestand gepflegt werden.

Für den in Izmir geborenen französischen Philosophen und Architekten Jean Balladur [https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Balladur] war La Grande-Motte das Lebensprojekt – er verbrachte 30 Jahre damit. Pierre Pillet war für die Planung der Grünanlagen zuständig, weitere Namen sind Paul Gineste, Pierre Dezeuze und Jean Bernardet. Laut Fotodatenbank Alamy ist die Residenz Fidji vom Sohn Balladurs geplant worden. Der Name Jean Balladur überstrahlt derartig die Berichterstattung, dass man sich möglicherweise nicht klar macht, dass er ja nicht im Alleingang oder nur mit einem kleinen Team eine ganze Kleinstadt entworfen haben kann. In einem Deutschlandfunk-Beitrag  finde ich die nachvollziehbare Info, dass sechzig Architekten im Team von Jean Balladur arbeiteten. Zwei Drittel der Gebäude habe er selbst entworfen. Zu den – überwiegend ebenso charmanten und einfallreichen Gebäuden, bei denen er aber nicht involviert war – ist die Informationslage dünn.

Hier sieht man, dass die Gebäude versetzt zueinander stehen – im Zentrum und nahe des Hafenbeckens stehen sie besonders dicht.

Heute hat der Ort 8.500 Einwohner*innen und jährlich etwa 120 000 Gäste. Das macht La Grande-Motte zu einer der zehn Städte Frankreichs mit dem höchsten Anteil an Touristen pro Einwohner.

Die architektonische Struktur

Wahrzeichen der nach Südwesten ausgerichteten Stadt sind die terrassenförmig angelegten Hochhäuser. Ich habe ein bisschen mit der Erklärung gefremdelt, dass die Pyramidenform aztekisch beeinflusst sein soll, fand dann aber folgende Erklärungen in der ausgesprochen nützlichen Publikation „Jean Balladur et la Grande-Motte – L’architecte d’une ville“, herausgegeben vom Ministère de la Culture et de la Communication: 1. Durch die Pyramidenform profitieren mehr Wohnungen von der Sonne – der Innenraum wird nach außen verlängert. 2. Die Pyramidenform harmonisiert besser mit der Landschaft als ein gewöhnlicher Hochhauskomplex. „Pyramidenförmige Silhouetten heben sich natürlicher von einem flachen Boden ab und beleben ihn wie ein Abbild der fehlenden Hügel.“ Und 3. Architekt Balladur war 1962 nach Mexiko gereist und brachte die Inspiration von dort mit. „Ich habe Teotihuacán und seine Pyramiden gesehen … es ist eine geometrische Anspielung auf die Berge, die die Ebene von Mexiko umgeben … Ich sagte mir, dass ich ein Echo der Cevennen an der Küste schaffen würde.“

Hier kommt die Pyramidenform besonders zur Geltung: Das Gebäude Les Incas, entworfen von Lucien Guerra, 1976.

Dazu kommt noch, dass die Gebäude versetzt im rechten Winkel zueinander stehen – um das Zentrum vor gleich drei starken Winden zu schützen: dem Tramontane aus den Pyrenäen, dem Mistral aus dem Rhône-Tal und dem Wind, der vom Meer kommt. Die dreieckige Grundform der Gebäude lässt dieses den Wind wie Kämme brechen.

Le Palais des Congrès, 1983. Man sieht ihm das Bemühen an, sich in die verspielte Leichtigkeit der Ursprungsplanung einzupassen, aber er wirkt dennoch etwas fremd.

Die Innenstadt mit den Pyramiden, die sich im östlichen Teil um den Yachthafen gruppieren und den eher öffentlichen Teil der Stadt mit Kongresszentrum, Post, Geschäften und Kirchen bilden, nennt man nach dem Sonnenaufgang Motte du Lever. Ihm gegenüber liegt der westliche, ruhigere Teil. Die Wohnanlagen haben sanftere, runder Formen und geschwungener Silhouetten. Hier findet eher das private Leben statt, hier gibt es einen langen Sandstrand. In der Benennungslogik ist die Motte du Couchant also dem Sonnenuntergang gewidmet. In manchen Artikeln ist auch die Rede vom männlichen und vom weiblichen Teil der Stadt – eine Interpretation, die in ihrer Klischeehaftigkeit wohl eher zur Gründungszeit passt.

These: Eine Stadt im Einklang mit der Natur

Angeblich besteht 70 Prozent der Stadtfläche aus Grün, was mich aber überhaupt nicht beeindruckt – kann man bei einer Neugründung ja nach Gusto die Flächen verteilen. Was aber stimmt, ist dass die Stadt stark durchgrünt ist. Und das macht sie so angenehm. Nicht nur, dass viele Palmen und Bäume Schatten spenden, bei meinem Besuch leuchtete der blühende Oleander auch besonders postkartenschön.

Grünanlage im Verwaltungsbezirk. Es war ein heißer Tag, als ich La Grande-Motte besucht habe, und ich habe schnell gemerkt, wie wohltuend die alten, von Pierre Pillet geplanten, Grünanlagen sind.

Die moderne Stadtplanung der 60er-Jahre hat eine breite Ringstraße mit sich gebracht mit Stichstraßen in die verschiedenen Stadtbereiche. Theoretisch sollte es also wenig Verkehr geben. Bezahlen muss man die Autofreundlichkeit der Epoche bis heute mit einer großen Zahl großer Parkplätze, unter anderem am Hafenbecken.

Zu diesem hübschen Wohngebäude namens Le Clos de l’Eglise habe ich leider nichts herausgefunden. Es befindet sich in einer kleinen Straße gegenüber der Kirche Saint-Augustin.

La Grande-Motte ist einerseits modern-altmodisch in einem Tati’schen Sinne, andererseits liegt sie in schöner Landschaft und schafft mit der vielen Begrünung Bezüge zur umgebenden Natur. Ob man das jetzt als Modell für moderne, nachhaltige Stadtentwicklung bezeichnen sollte … ich weiß nicht.

La Grande-Motte als „Patrimoine du XXe siècle“

La Grande Pyramide von 1974. Man kann sie als Hauptgebäude bezeichnen, denn sie ist das deutlich größte Gebäude und besonders auffällig gestaltet, denn die drei Flügel wirken organisch geformt.

Was ist denn jetzt das Besondere an La Grande-Motte? Schließlich entstanden zu dieser Zeit überall rund ums Mittelmeer Infrastrukturen für Massentourismus – mehr oder weniger originell und grün. Meine Antwort lautet: Weil der Architekt den damals schicken, flüssigen Baustoff Beton nutzte, um Skulpturen zu schaffen. Die Tatsache, dass es viel Kunst im Öffentlichen Raum gibt, lenkt ein bisschen von der Skulpturenhaftigkeit der Gebäude ab – und genau diese macht La Grande-Motte aus meiner Sicht aus.

Ein Detail, das mir rein visuell besonderen Spaß gemacht hat, waren diese in einen kleinen runden Platz hineinragenden Elemente im Umkreis der Boutiques du Couchant von 1980.

La Grande Motte wurde aufgrund seiner einzigartigen Architektur und städtebaulichen Gestaltung 2010 in die Liste der „Patrimoine du XXe siècle“ aufgenommen, einer Auszeichnung des französischen Ministeriums für Kultur und Kommunikation, die bedeutende Werke des 20. Jahrhunderts würdigt. Es ist die erste Stadt, die in ihrer Gesamtheit diese Würdigung erfährt. Es scheint allerdings nicht möglich zu sein, im Netz eine Jurybegründung zu finden. Aber das macht nichts, fällt mir da auf, ich habe eh schon wieder viel zu viel geschrieben.

PS: Eins noch, wer sich für Urlaubsarchitektur mit tropischem Flair interessiert, hat vielleicht auch Freude an meinem Blogbeitrag über das Örtchen Royan am Atlantik. Le Knick, c’est chic!

Summary

La Grande-Motte is a planned city on France’s Mediterranean coast, built in the late 1960s as part of a national project to promote tourism in the Languedoc region. Designed by architect Jean Balladur, the city is characterized by its striking pyramid-shaped concrete buildings, inspired by both modernist ideas and natural surroundings. Originally dismissed as a symbol of mass tourism, it has since gained recognition for its innovative urban planning, integration of greenery, and sculptural architecture. Today, La Grande-Motte has around 8,500 residents and welcomes about 120,000 tourists annually, making it one of France’s most tourist-heavy cities. In 2010, it was designated “Patrimoine du XXe Siècle,” marking it as the first entire city to be honoured as a cultural heritage site of the 20th century.

Résumé

La Grande-Motte est une ville nouvelle située sur la côte méditerranéenne française, construite à la fin des années 1960 dans le cadre d’un projet national visant à promouvoir le tourisme dans la région du Languedoc. Conçue par l’architecte Jean Balladur, la ville se distingue par ses impressionnants immeubles en béton en forme de pyramide, inspirés à la fois par les idées modernistes et l’environnement naturel. D’abord critiquée comme symbole du tourisme de masse, elle est aujourd’hui reconnue pour son urbanisme novateur, son intégration des espaces verts et son architecture sculpturale. Actuellement, La Grande-Motte compte environ 8 500 habitants et accueille près de 120 000 touristes chaque année, ce qui en fait l’une des villes françaises les plus marquées par l’afflux touristique. En 2010, elle a été classée « Patrimoine du XXe siècle », devenant ainsi la première ville entière à recevoir cette distinction culturelle.