Royan: Le Knick, c’est chic

Wie ein kleines Seebad an der französischen Atlantikküste nach dem zweiten Weltkrieg mit tropischem Charme und brasilianischen Architekturanleihen wieder aufgebaut wurde.

Bäm, der Krieg ist vorbei, ein Ort liegt in Schutt und Asche. Nicht nur Pforzheim, Kassel, Dresden, das Ruhrgebiet und unzählige Orte in Deutschland stehen vor der Frage: Wie geht’s jetzt weiter? Auch in Frankreich gibt es mehr „Rekonstruktionsarchitektur“ als man es sich so klar macht. Ähnlich wie in Deutschland scheint es noch zu dauern, bis die Qualitäten dieser Gebäude wertgeschätzt werden – immer verbunden mit der Gefahr, dass sie überformt, totrenoviert oder ganz abgerissen werden.

Ein kurzer Exkurs, bis wir nach Royan kommen, um das es ja hier gehen soll: Das berühmteste Beispiel für eine wiederaufgebaute Stadt ist Le Havre in der schönen Normandie. Le Havre steht mittlerweile unter dem Schutz nicht nur einer Denkmallistung, sondern auch ihres Status als UNESCO-Weltkulturerbe. Ihr leitender Architekt und Planer, Auguste Perret, orientierte sich an den Grundsätzen der Moderne und entwickelte mit seinem Architektenteam zwischen 1945 und 1964 eine höchst ökonomische Bauweise mit vorfabrizierten Betonteilen, die alle einem bestimmten Größenraster folgten. Das Ergebnis: ein in sich harmonisches Stadtbild mit weiten Straßen und Plätzen, die die alte Stadtstruktur respektieren. Prägend ist der Einsatz von Beton und von kräftigen Farben. Perret war auch in Marseille tätig und hat einen Teil der Neubebauung am alten Hafen geplant.

Royan war „Laboratorium städtebaulicher Forschung“

Einen anderen Weg ging Architekt André Laborie mit seinem Team bereits in den ausgehenden 40er-Jahren in Gien im Département Loiret. Das Örtchen an der Loire war nach der Bombardierung der Brücke durch Deutschland, um der französischen Armee den Rückzug über die Loire abzuschneiden, großflächig abgebrannt. Beim Wiederaufbau orientierte man sich an den bekannten Formen, Kubaturen und Materialien unter Verwendung fertiger Bauelemente. Zudem sind die Arbeiten hochwertig ausgeführt, Backstein zum Beispiel kunstvoll gesetzt. Die Mischung funktioniert – alte Straßenzüge wurden wieder erkennbar, man fühlt sich in einem „gewachsenen“ alten Ortskern.

Diesen und weiteren Wiederaufbauarchitekturen in Frankreich ist eines gemein: Sie waren zentral organisiert und starteten unmittelbar nach dem Krieg. Es gab Geld, Struktur und Austausch, wenn auch die Herangehensweise dann durchaus unterschiedlich waren. Ich sehe schon, ich mache mal einen eigenen Blogbeitrag zu dem Thema – es interessiert mich. Aber für den Moment sollte das reichen. Denn ich möchte ja in diesem Beitrag das charmante Royan vorstellen. Mit seinen 18.000 Einwohnern liegt es an der gemeinsamen Mündung von Dordogne und Garonne in den Atlantik auf einer kleinen Landzunge im Département Charente-Maritime. Während der Besatzungszeit hatten die Deutschen Royan zu ihrem Standort auserkoren. Ich zitiere zur Zerstörung Wikipedia: „Bei einem britischen Luftangriff am 5. Januar 1945 wurde die von deutschen Truppen besetzte Stadt fast vollständig zerstört. Royan wurde wenige Wochen vor der deutschen Kapitulation noch von deutschen Truppen weitab des seinerzeitigen Frontverlaufes gehalten. Mitte April wurde die Stadt nochmals von der US-Luftwaffe vernichtend angegriffen. Dabei wurde großflächig Napalm eingesetzt.“ 725.000 Liter Napalm, wie ich in der französischen Wikipedia finde, wo ohne Quellenangabe auch von 85 Prozent Zerstörung die Rede ist.

Der Auftrag für den Wiederaufbau Royans ging an den Architekten Claude Ferret. Das Ministerium für Wiederaufbau und Urbanistik hatte Royan zum „Laboratorium städtebaulicher Forschung“ erklärt, ebenso wie Calais, St. Dié, Dunkerque, Toulon und Le Havre.

„Eine einmalige Chance, eine zeitgenössische Stadt zu bauen“

Zunächst war geplant, auf der Grundlage einer Planung aus den 30ern zur arbeiten. Die Moderne war noch nicht so ganz an der Atlantikküste angekommen. Doch dann geschah die Magie! Zugegeben, wir betreten das Reich der Mythen und Legenden, aber es ist zu schön. Denn: Die Überlieferung erzählt, dass das Planungsteam wesentliche Impulse für seine Planung in aktuellen Architekturzeitschriften fand, die von aktuellen Bauprojekten in Europa und Brasilien berichtete. Beton als Baustoff, Moderne Planungen von Niemeyer und anderen. Elektrisiert von der Leichtigkeit der Entwürfe, den Schwüngen und Winkeln sahen die Planer von Royan darin ihren Weg für den Wiederaufbau. So kam es, dass sich Royan heute einer fast tropisch anmutenden Architektur erfreut, die Moderne und Leichtigkeit miteinander verbindet und teilweise auch sichtbar wertgeschätzt wird. Ferret soll – wie ich finde, durchaus enthusiastisch – gesagt haben: „Die Stadt war zerstört, das gesamte Zentrum existierte nicht mehr. Wir hatten die einmalige Chance, eine etwas zeitgenössischere Stadt zu bauen.“

Ein kleiner Hinweis: Aufgrund der Fülle an Bildern verzichte ich diesmal ausnahmsweise auf Alt-Texte. So, los geht’s mit einigen Wohngebäuden zum Atmosphäreschnuppern:

Wohnhaus in der Rue du Docteur Paul Métardier, 1954-56. Architekt war Marc Quentin. Rechts sieht man die Eingangsüberdachung mit Knick, die das Titelfoto dieses Beitrags zeigt.
Ein namenloses Wohnhaus mit dem 50er-Knick.
Dieses kleine Wunderwerk steht im Stadtteil „Oasis“ – so genannt wegen der vielen alten Bäume, die der guten Luft wegen dort nicht gefällt wurden. Es handelt sich um die Villa „Boomerang“.
Etwas reingezoomt auf all die tollen Details der Villa „Boomerang“, die 1955-59 entstanden ist. Ganz bestimmt hat Architekt Pierre Marmouget ein bisschen für Niemeyer geschwärmt.
Drittes und letztes Bild der Villa „Boomerang“, weil ich die Leiter vom ersten Stock direkt in den Pool so gut finde. Rundherum gibt es rote Schilder, die einem verbieten, das Gelände zu betreten. Das versteht sich von selbst, aber Lust dazu hat man schon!
Im Abendlicht: die denkmalgeschützte Villa „Ombre Blanche“, 1958. Architekt Claude Bonnefoy hat bestimmt mal kurz in Richtung Le Corbusier geschielt, oder?
Villa „La Perinnière“, 1955, Architekten Jean Daugrois und Marcel Barnier. Am Ankunftstag mit dem iPhone festgehalten und dann kein ordentliches Foto mehr gemacht, dabei ist sie wirklich hübsch!
Im Stadtteil „Parc“ findet sich dieses traurige Beispiel vernachlässigter 50er-Architektur. Die Villa von 1957 hat Roger Barre entworfen – und alle schicken Details sind da. Nur will sich offenbar schon länger niemand um dieses Dornröschen kümmern.
Die Baugenehmigung stammt von Oktober 2017 und seitdem scheint leider nicht viel geschehen zu sein. Die denkmalgeschützte Villa „Hélianthe“ aus der Feder von Yves Salier stammt von 1956 und besticht mit schönen Details und ihrer Lage an einem kleinen Platz.
Detailansicht der Villa „Hélianthe“.
Das Schwestergebäude zur Villa „Hélianthe“: das „Ponts et Chaussées“-Gebäude, ebenfalls von Yves Salier und 1952 fertiggestellt. Super in Schuss und ein echter Hingucker mit den fest verbauten horizontalen Sonnenblenden, die angeblich zu den ersten ihrer Art in Frankreich gehörten. Sagt die Broschüre der Tourist-Info – also keine Gewähr!
Er ist überall – der Knick!
Aus Lust an der Form: Die Villa mit dem Spitznamen „Toaster“ umfasst zwei Wohnungen. Eine Eingebung von Pierre Margouget und Édouard Pinet, 1953-56.
Detailansicht der Toaster-Villa.
Eher technisch, angeblich von Auguste Perret inspiriert: das Taunay-Gebäude. Geplant 1949, fertiggestellt 1964, Architekt Louis Simon. Denkmalgeschützt.
Namenloses Apartmenthaus, Straßenlaterne und Verkehrsinsel. Monsieur Hulot kommt gleich um die Ecke …
Der Frühstücks- und Aufenthaltsraum des charmanten Hotel Le Trident atmet den Geist der 50er-Jahre. Der gegenwärtige Besitzer erzählte, er führe das Hotel in dritter Generation.

Und damit kommen wir langsam zu einer doppelt spektakulären Gebäudekategorie – den religiösen Gebäuden. Hier gibt’s nämlich sogar ein brutalistisches Highlight. Aber erst Palm-Springs-Vibes!

Ganz zart: Evangelischen Kirche, 1953 geplant, 1956 vollendet. Architekten warn René Baraton, Jean Bauhain und Marc Hébrard. Denkmalgeschützt.
Gesamtansicht der Kathedrale Notre-Dame de Royan. Sie wurde 1955-58 errichtet, Architekt war Guillaume Gillet.
Das dreieckige Altarfenster hat Claude Idoux 1958 gestaltet.
Ich bin etwas uneins über dieses Eingangsvordach. Es kommt mir seltsam filigran vor im Verhältnis zum Rest …

Und als drittes folgen öffentliche Gebäude. Interessant ist, dass der Zentralmarkt städtebaulich viel stärker eingebunden ist als die dominante Kathedrale. So wiegen sie sich gegenseitig auf.

Der Zentralmarkt, Endpunkt des Boulevards, der vom Meer in die Stadt führt. 1946-56 errichtet, Architekten waren André Morisseau und Louis Simon. Denkmalgeschützt.
Detailansicht einer der Eingangstüren zum Markt mit keckem Vordach.
Nach den aufgeräumten Architekturfotos hier noch ein Eindruck vom lebendigen Markt an einem Werktag.
Das geschwungene Betondach soll nur zehn Zentimeter dünn sein.
Boulevard Aristide Briand. Er verbindet die touristische Bebauung am Meer mit dem Markt. Und man sieht deutlich, dass diese Pläne vor der tropischen Erleuchtung entstanden sind. Geplant 1945, vollendet 1956. Architekten Claude Ferret, Louis Simon und André Morisseau.
Über den Durchgängen in der Bebauung entlang des Boulevard Aristide Briand gibt es Steinmetzarbeiten mit maritimen Motiven.
Das Postamt gehört zu zwei Epochen: Der helle Gebäudeteil stammt aus der Feder von Architekt André Ursault, 1951-55. Die Beton-Rotunde wurde erst zu Beginn der 80er-Jahre davorgesetzt. Hier gibt es schöne alte Fotos von dem Objekt.
Tropischer Brutalismus? Eine Detailansicht des Anbaus zum Postgebäude.
Die „Front-de-Mer“-Bebauung fasst in zwei mächtigen Gebäudeflügeln ein sanftes Rund, in dessen Mitte früher direkt am Strand ein Casino stand. Das fehlt jetzt, und das ganze dramatische Setting führt gewissermaßen ins Leere. Dennoch funktionieren die Gebäude noch bestens: In den Arkadengängen war selbst im Juni schon ordentlich was los. 1950-56, Architekten waren Claude Ferret, Louis Simon und André Morisseau.
Jeder Durchgang vom „Front-de-Mer“ zur Stadt ist in einer anderen Farbe gestaltet.
Etwas schwerer und wuchtiger als die 50er-Planungen ist der Sportkomplex mit seiner markanten Form. Architekt Claude Bonnefoy, 1960er.
Der Kongresspalast – und es steht immer ein Auto davor. Immer. Der Kongresspalast ist neuerdings „zurückrenoviert“ zu seiner alten Form. Zwischenzeitlich war die gesamte Front komplett von einer Fensterfront verschlossen. Die Farben stören mich enorm, auch wenn sie – im Vergleich zu alten Postkarten – stimmig zu sein scheinen. 1954-57, Architekten Claude Ferret, Pierre Marmouget, Adrien Courtois und Jacques Bruneau. Denkmalgeschützt.
Der Wasserturm, ein echter Hingucker, der sogar der Kathedrale etwas Konkurrenz um die Lufthoheit macht … Seit 1959 in Benutzung, Architekt war Claude Bonnefoy. Denkmalgeschützt.
Die nach ihrem Architekten Louis Simon benannte Galerie war ursprünglich der Busbahnhof. Geplant 1953, vollendet 1964. Weiterer Architekt war Pierre-Gabriel Grizet.
Die Kurmuschel, gestaltet von Marcel Canellas, 1960-61. Von vorne wirkt sie schon ein bisschen vergammelt, aber das ist nichts gegen den bösen Schreck, den man erfährt …
… wenn man um das Gebäude herumgeht. Zeigt die Broschüre mit 50er-Jahre-Archi vom Fremdenverkehrsamt noch ein hübsches abstraktes Mosaik auf der Rückseite des Musikpavillons, findet man nun dort: öffentliche Toiletten.
Diese schwungvoll gestaltete Überdachung gibt einer Reihe von Gastronomiebetrieben, Andenkenläden, Kirmesbuden und der Tourist Information ein bisschen Struktur direkt an der Strandpromenade. Hier sieht man den brasilianischen Spirit besonders gut, finde ich. Genannt „Botton-Galerien“, 1954-56. Architekten waren Henri-Pierre Maillard und Armand Jourdain.
Ahoi! In zweiter Reihe hinter dem „Front de Mer“-Komplex sticht dieses wunderbare Schiff in See, auf zu neuen Abenteuern ….

Einige Highlights findet man mithilfe von Broschüren, um die man bei der Tourist-Info energisch bitten muss – man scheint mit den vorhandenen Exemplaren dort hauszuhalten. Aber auch abseits von Kongresspalast, Schwimmbad und der einzigartigen Betonkathedrale, lohnt es sich, einfach durch die Straßen zu wandern. Überall findet man keck abgeschrägte Dächer, Vordächer, Winkel und Schwünge. Diesem Knick, der sich so durchs Stadtbild zieht, habe ich die Überschrift zum Beitrag gewidmet.

Während Le Havre schon ein eigenes Büro rund um seine ungewöhnliche und markante Architektur unterhält, scheint Royan noch unentschlossen. Einige 50er-Werke genießen Denkmalschutz, nicht aber die Gesamtheit der Gebäude. Dass die dem Strand zugewandte Seite der Kurmuschel nun öffentliche Toiletten zeigt statt eines hübschen bauzeitlichen Mosaiks kann man echt nur als blöden Witz bezeichnen. An der Stelle führt der Küstenradweg lang, hier gibt es Eis und Getränke – kurzum: Es wirkt, als wolle die Stadt ihr 50er-Flair verstecken vor den Besucher*innen.

Generell gibt es noch nicht so viele Publikationen über die Architektur des Wiederaufbaus in Frankreich. Reiseführer machen einen großen Bogen um das Thema – was ich anprangere! Zu Royan fand ich den hervorragenden Artikel Royan: Ein Stadtdenkmal im Wartestand von Kerstin Wittmann-Englert, der allerdings schon von 2015 ist. Hier fand ich den Hinweis auf einen Artikel über Royan in Bauwelt 15/1996. Die bereits oben verlinkte französischsprachige Masterarbeit von Gaëlle Gilles befasst sich mit der Nachkriegsarchitektur von Royan und ihrem touristischen Wert. Download hier.

Summary

After the destructions in WWII, the little seaside resort of Royan on the atlantic coast was reconstructed according to modernist principles. The new buildings are inspired by the contemporary enthusiasm for Oscar Niemeyer and other Brazilian architects. Expect some tropical lightness, colours and fun.