Besonders die im zweiten Weltkrieg stark zerstörten Städte weisen bis heute eine große Zahl von originellen Baulücken auf, die das Stadtbild prägen. Eine Erkundung dieser visuellen Stolpersteine, deren provisorische Nutzung sich oft verstetigt hat.
Bochum hat die lustigste, Berlin die lässigsten, in Hamburg ist definitiv die spektakulärste zu finden: Nachkriegsbaulücken mit provisorischer Bebauung. Es gibt sie in vielen Städten Europas; es sind Orte, an denen man die Kriegszerstörungen noch ablesen kann. Sie unterbrechen die gefällige Ordnung, die elegante Fassadenfront, die klare Struktur. Weil dort nicht „ordentlich“ wieder aufgebaut wurde. Weil Lücken blieben.
Manchmal parken Autos auf den funktionslosen Grundstücken, manchmal sind es richtige Brachen. Gelegentlich findet man eher unauffällige ein- oder höchstens zweistöckige Gebäude. Was es mit ihnen auf sich hat und warum sie vermutlich nicht mehr lange das Stadtbild bereichern werden – davon handelt dieser Text. Und von meiner nostalgischen Haltung zu Nachkriegsbaulücken.
Lücken zu schließen ist das Ziel. Oder?
Denn: Googelt man „Nachkriegsbaulücke“, stößt man auf eine Menge Artikel und Publikationen darüber, was mit ihnen zu tun ist: Sie zu schließen scheint oberstes Ziel. Es kann ja schließlich nicht sein, dass der wertvolle innerstädtische Raum aufgrund solcher Minderbebauungen nicht optimal genutzt werden kann. So richtig dieser Gedanke aus ökonomischer Sicht und einer weiteren Reihe von Gründen ist – ganz überzeugt er mich nicht. Da steckt mehr im Thema.
Manche Lücken sind einfach zu klein
Nicht jede Baulücke lässt sich nach heutigen Baustandards nutzen. Ich habe ein paar wirklich kleine Exemplare gefunden.
Das unpraktische Eckgrundstück
Meist haben die Nachkriegsprovisorien flache Dächer, man sieht ihnen die einfachen Baumaterialien an. Man spürt, dass sie nicht dazu gedacht waren, im neuen Jahrtausend auf den Investoren-Märchenprinzen zu warten, der die kleine Grundfläche zu einer neuen Einkommensquelle entwickelt. Oftmals dauern sie an schwierigen Eckgrundstücken fort oder zwischen großen Gebäuden, denen sie von der Grundfläche her nicht entsprechen.
Das Wirtschaftswundertestimonial
Gelegentlich verströmen die Provisorien einen Hauch Wirtschaftswunderhaftigkeit, sind gekachelt und tragen fesche Neonschriftzüge. Hier gab es nach dem Krieg erste Modegeschäfte, vielleicht Frisörläden oder Blumenläden, die nicht viel Platz brauchten. Häufig haben sich noch kleinere Formate – Büdchen, Kioske und Trinkhallen – in den Nischen etabliert.
Die Mauer als Leinwand
Ein besonderes Feature dieser zu klein geratenen Bebauungen sind die riesengroßen Flächen, die sich über ihnen erheben. Manchmal sind es raue Brandmauern aus Ziegeln. Manchmal sind es aber auch einfach glatt verputzte, fensterlose Wände, die seit Jahrzehnten auf den Lückenschluss warten. Hier eröffnet sich eine zunehmend beliebte Möglichkeit der kreativen Nutzung: Die Mauer wird zur Leinwand für Street Art. Gelegentlich sind auch noch verblasste alte Werbungen sichtbar, oder auch politische Graffiti. Unübersehbar in Berlin war die Hommage an die drei Brüder Boateng im Wedding: „Gewachsen auf Beton“. Eine Mischung von Street Art, Kiezbotschaft und Werbung, inhaltlich wohl etwas verkürzt und erstellt im Auftrag von Nike.
Hommage an die Brandmauer
Das Rohe, Raue von Brandmauern verschwindet mit der zunehmenden Bebauung von Nachkriegslücken langsam aus dem Stadtbild. Deshalb hier eine kleine Hommage an die Brandmauer, die Kulisse der Nachkriegskindheiten, wie der Dresdner Fotograf Harf Zimmermann im Vorwort zu seinem Buch „Brand Wand“ schreibt. Das Hervortreten dieser besonders soliden Wände, die das Überspringen von Bränden zwischen Gebäuden verhindern sollen, sei ein typischer Anblick der nachkriegszerstörten Innenstädte gewesen. Mauern der Scham, die von der Zerstörung erzählen, gebaut aus Backsteinen. Später sind sie mit Asbest- und Eisenplatten bedeckt worden, auch das ein typischer Anblick der kriegszerstörten und noch immer nicht geheilten Stadt.
Mit viel Glück offenbaren Brandmauern noch die Form der ehemaligen Nachbargebäude. Diese auf Instagram mit #hausabdruck verlinkten besonderen Fälle werden mittlerweile ebenfalls manchmal künstlerisch ausgeformt und für Interventionen genutzt.
Das Ohlàlà
Das kleine, flache Gebäue scheint auch eine passende Form zu sein zum Feiern, vielleicht gar für den Exzess. Denn bei meinen teils zufälligen, teils zielgerichtet erstellten Fotos waren einige dabei, die für ihre nächtliche Aktivität berühmt-berüchtigt sind oder waren. Vielleicht boten – und bieten – die Provisorien durch ihr nicht auf Dauerhaftigkeit angelegtes Wesen eine gewisse flüchtige Freiheit inmitten der wohlgeordneten Stadt?
Gyrosdönerpommespizza – unter Flachdach noch leckerer
Auffällig ist, dass Imbisslokale in Nachkriegsprovisorien eine passende Heimat zu finden scheinen. Jedenfalls habe ich viele schöne solcher Exemplare gefunden.
Die Schaufassade
Einen gewissen Sinn für den Auftritt haben besonders eher mickrige kleine Provisorien. Einem Pfauenrad gleich spreizen sie sich zu imposanterer Größe auf, indem sie Aufsätze tragen, die keine Funktion, aber eine optisch vergrößernde Wirkung haben.
Die Zwillingsprovisorien
Ist die Lücke ausreichend groß, bilden sich kleine Flachdachcommunities. Ich habe jedenfalls mehrere Doppellückenbebauungen dokumentiert.
Die Jagd auf erschlossene Flächen
Gefühlt hat jede Stadt, die mit Zerstörungen im zweiten Weltkrieg umgehen muss, ein Baulückenprogramm aufgelegt. Das ist ökonomisch sinnvoll. Denn die noch unbebauten Grundstücke haben einen großen Vorteil: Sie sind bereits erschlossen, verfügen über alle Infrastruktur. Will man hier bauen, muss man keinen Zentimeter Grünfläche dafür plattmachen. Städte wollen und müssen verdichten, um den benötigten Wohnraum zu schaffen oder um Investoren die gewünschten Grundstücke zur Verfügung zu stellen. Ob Verdichtung – oder schöner „Innenentwicklung“ –: Brachen und Lücken sind zunehmend wertvoll. Stuttgart zum Beispiel pflegt eine Datenbank, in der man nach Lücken suchen kann. Das im Krieg stark zerstörte Köln wusste schon in den 80ern um den Wert der Baulücke und legte ein entsprechendes Programm auf.
Die Bremsklötze
Leider gibt es nicht viele systematische Analysen darüber, wie viele Baulücken es noch gibt, welche Qualitäten sie haben und warum sie gelegentlich so ein Eigenleben führen, zu rätselhaften Zeitkapseln werden. Die Studie „Entwicklung von umsetzungsorientierten Handlungsschritten zur Mobilisierung von Baulücken und zur Erleichterung von Nutzungsänderungen im Bestand in Innenstädten NRWs“, die das Geographische Institut der Universität Bonn 2006 veröffentlichte, blickt zwar nur auf ein Bundesland, aber ich vermute, dass die Ergebnisse dennoch eine gewisse Allgemeingültigkeit haben. Und es ist wohl ein Thema störrischer Eigentümer*innen: „Das mangelnde private Verkaufsinteresse war in der landesweiten Umfrage in Verbindung mit der privaten Bevorratung der eindeutig am häufigsten genannte Grund, der einen Baulückenschluss behindert. Beide Ursachen wurden von jeweils rund 90 Prozent aller befragten Städte und Gemeinden als das wesentliche Hemmnis angegeben.“ Wer hätte das gedacht? Weitere Gründe sind der Studie zufolge: Erbengemeinschaften, fehlende Bodenordnung, Nachbarschaftskonflikte, Abstands- und Stellplatzregelungen.
Der Appell: Bloß langsam machen
Die kleinen Flachdachbauten sind aus meiner Sicht eine wertvolle visuelle Erinnerung daran, was Bombardierungen und Kriege mit Städten machen. Sie sollten bleiben, für Abwechslung im Stadtbild sorgen und als „Erinnerungslücken“ für nachrückende Generationen.
Meine persönliche Erinnerungslücke befindet sich auf der Rüttenscheider Straße in Essen. In der Nummer 128 befand sich „Kindermoden Brauckmann“, wo ich als Kind in den 70er-Jahren immer mal wieder mit praktischer Kleidung ausgestattet wurde. Über Jahre fristete der kleine Laden, in den nach und nach andere Geschäfte einzogen, ein sparsames Dasein an der Flanier- und Gastromeile. Heute ist die Fassade schwarz angemalt und kurzfristige Pop-up-Nutzungen wechseln sich ab.
Eigentlich sollte hier in dieser beliebten Gegend schon längst neu gebaut sein – praktischerweise befindet sich direkt daneben auch noch ein zweistöckiges Provisorium –, doch gibt es Probleme mit der Frage, in welcher Flucht die Fassaden anzuordnen sind. Manche stehen in der Nachkriegsordnung mit etwas Abstand zur Straße, andere weiter vor, wie es die Planung von 1900 vorsah – so auch mein Ex-Kindermodengeschäft. Die Stadt bleibt an dieser Stelle bei der Nachkriegsplanung, die bei aller autogerechten Planung doch schön viel Platz für Fußgänger vorsieht. Eigentümer*innen und mögliche Investor*innen wollen nicht in die hintere Reihe zurücktreten und dadurch wertvollen Raum verlieren. So starren sich alle gegenseitig an und warten, dass die andere Partei sich bewegt. Vielleicht bleibt der einen oder anderen Erinnerungslücke ja doch noch etwas Zeit …
Wer noch nicht genug hat:
Das online-Magazin moderneRegional hat 2021 das Heft „Auf Lücke – von Fehlstellen und Stolpersteinen“ herausgebracht. Unter anderem untersucht Uta Winterhager darin originelle Baulösungen für besonders schmale Lücken in Köln. Darin fand ich auch den Hinweis auf die Publikation „Bauen in der Lücke“, die eine studentisch initiierte Ausstellung 1984 in Köln begleitete. Der Titel zog mich magisch an – kein Wunder, das Foto stammt von Axel Hütte. Innen tobt die Postmoderne, schmaler und breiter.
Der Instagram-Account Heiko’s Houses ist generell zu empfehlen und ganz besonders für Baulückenfans interessant. Schwerpunkt Berlin.
Die beiden Fotografen Peter Bruns und Claas Möller arbeiten derzeit am Thema „Hamburger Flachbauten“ und werden wohl noch 2024 eine Publikation über ihren dokumentarischen Blick auf Hamburger Baulücken und ihre provisorische Nachkriegsbebauung herausbringen.
Und ich bleib am Thema! Wer schöne Lücken findet: Ich freue mich über Post mit Tipps. Dankeschön schonmal.
Summary
The cities that were heavily destroyed in the Second World War still have a large number of original gaps between buildings that characterize the cityscape. An exploration of these visual stumbling blocks, whose temporary use has often become permanent.