Teil einer großen Kreuzung mit Elektrokabeln für Straßenbah, breiter Straße und rechts im Bild einer Autobahnabfahrt. Zwischen vierstöckigen Wohngebäuden stehen zwei Flachdachprovisorien mit der Beschriftung Mossul Grill und Nali Brot.

Provisorien in Baulücken: ephemere Dauerhaftigkeit

Besonders die im zweiten Weltkrieg stark zerstörten Städte weisen bis heute eine große Zahl von originellen Baulücken auf, die das Stadtbild prägen. Eine Erkundung dieser visuellen Stolpersteine, deren provisorische Nutzung sich oft verstetigt hat.

Bochum hat die lustigste, Berlin die lässigsten, in Hamburg ist definitiv die spektakulärste zu finden: Nachkriegsbaulücken mit provisorischer Bebauung. Es gibt sie in vielen Städten Europas; es sind Orte, an denen man die Kriegszerstörungen noch ablesen kann. Sie unterbrechen die gefällige Ordnung, die elegante Fassadenfront, die klare Struktur. Weil dort nicht „ordentlich“ wieder aufgebaut wurde. Weil Lücken blieben.

Manchmal parken Autos auf den funktionslosen Grundstücken, manchmal sind es richtige Brachen. Gelegentlich findet man eher unauffällige ein- oder höchstens zweistöckige Gebäude. Was es mit ihnen auf sich hat und warum sie vermutlich nicht mehr lange das Stadtbild bereichern werden – davon handelt dieser Text. Und von meiner nostalgischen Haltung zu Nachkriegsbaulücken.

Lücken zu schließen ist das Ziel. Oder?

Denn: Googelt man „Nachkriegsbaulücke“, stößt man auf eine Menge Artikel und Publikationen darüber, was mit ihnen zu tun ist: Sie zu schließen scheint oberstes Ziel. Es kann ja schließlich nicht sein, dass der wertvolle innerstädtische Raum aufgrund solcher Minderbebauungen nicht optimal genutzt werden kann. So richtig dieser Gedanke aus ökonomischer Sicht und einer weiteren Reihe von Gründen ist – ganz überzeugt er mich nicht. Da steckt mehr im Thema.

Manche Lücken sind einfach zu klein

Nicht jede Baulücke lässt sich nach heutigen Baustandards nutzen. Ich habe ein paar wirklich kleine Exemplare gefunden.

Blick bei Regenwetter über die Straße an der Fußgängerampel, die rot zeigt. Oben zeigen Kabel, dass hier eine Straßenbahn fährt. Gegenüber zwei Wohngebäude, zwischen ihnen eine sehr schmale Lücke, in der sicht eine Trinkhalle befindet. Sie ist so schmal, dass sie keine tür hat. Eine beleuchtete Werbung fürdie Bild-Zeitung. Am rechten Haus ein Kuh-Graffiti und Straßenschilder in Richtung Bochum-Zentrum, Ruhr-Universität, Essen-Steele und zur Autobahn A40.
Diese charmante Trinkhalle in Bochum-Wattenscheid-Höntrop war auf meinem Instagram-Account sehr beliebt. Insbesondere die Frage, wie denn die Verkaufsperson hineinkommt so ohne Tür, wurde diskutiert. Darauf eine gemischte Tüte Süßes und ein lecker Pilsken.
Platz für eine Fritteuse ist in der kleinsten Hütte! Diese steht in der Wilhelmshavener Innenstadt.
Frontaler Blick auf eine Häuserzeile mit Wohnhäusern, links beige, rechts blau. In der Mitte eine sehr schmale Lücke, in der ein Bestattungsinstitut in einstöckigem Flachdachprovisorium untergebracht ist. "Karl Schumacher, Niedrige Preise." Dahinter ragt der mit Eternitplatten verkleidete Gibel eines weiteren Gebäudes auf. Im Vordergrund ein Schild, das die Gleisnummer einer Tramhaltestelle anzeigt.
An der Haltestelle Weserstraße in Essen-Bergerhausen findet sich dieses schmale Nachkriegsprovisorium mit Sinn für die Ewigkeit.

Das unpraktische Eckgrundstück

Meist haben die Nachkriegsprovisorien flache Dächer, man sieht ihnen die einfachen Baumaterialien an. Man spürt, dass sie nicht dazu gedacht waren, im neuen Jahrtausend auf den Investoren-Märchenprinzen zu warten, der die kleine Grundfläche zu einer neuen Einkommensquelle entwickelt. Oftmals dauern sie an schwierigen Eckgrundstücken fort oder zwischen großen Gebäuden, denen sie von der Grundfläche her nicht entsprechen.

Ein Glücksmoment beim ernsthaften Erkunden der Essener Industriekultur: Ich war auf dem Weg zur nahe gelegenen Zeche Vereinigte Helene Amalie, als ich diesen kreativen Anbau ans Gebäude fand.
Eine Innenstadt mit historischen, modernen und Nachkriegsgebäuden, Fußgängerzone, Straßenbahschienen, viele geparkte Fahrräder, eine Litfasssäule und wenige Menschen. Zentral im Foto eine große Baulücke auf einem spitz zulaufenden Eckgrundstück. Mehrere Dinge fallen auf: Es gibt ein zweistöckiges und ein einstöckiges Flachdachgebäude in der Lücke, darin der Mezopotamien Grill. Die linke Brandmauer ist weiß gestrichen, die rechte zwigt noch die Umrisse eines mittlerweile abgerissenen oder zerstörten Nachbargebäudes.
Diese auffällige Baulücke in Braunschweig ist besonders auffällig durch ihre Größe, ihre zentrale Innenstadtlage und das vielfältige Bild, das sie abgibt. Aus meiner Sicht eignet sie sich besonders dafür, uns die langfristigen Folgen von Kriegszerstörungen vor Augen zu führen.
Eine Straßenkreuzung, wir blicken diagonal auf die gegenüberliegende Ecke. Rechts und links stehen vierstöckige Wohngebäude. Auf der Ecke ein einstöckiger Flachbau. Er ist gelb gestrichen und trägt den Schriftzug "Casono Las Vegas". An den verputzten Branwänden rechts und links befinden sich Werbungen: für den Mieterverein Bremerhaven, eine Gerüstbaufirma und eine Firma AyDell.
Optisch ziemlich laut fand ich diese Ecke insgesamt. Sie befindet sich in Bremerhaven-Geestemünde.

Das Wirtschaftswundertestimonial

Gelegentlich verströmen die Provisorien einen Hauch Wirtschaftswunderhaftigkeit, sind gekachelt und tragen fesche Neonschriftzüge. Hier gab es nach dem Krieg erste Modegeschäfte, vielleicht Frisörläden oder Blumenläden, die nicht viel Platz brauchten. Häufig haben sich noch kleinere Formate – Büdchen, Kioske und Trinkhallen – in den Nischen etabliert.

Streng genommen keine Lücke, aber ein Nachkriegsprovisorium mit Gestaltungswillen, der auch der umfassenden Schaufensterbeklebung trotzt. Gesehen in Wilhelmshaven.
Köln ist ja in jeder Hinsicht gut, und dieses gekachelte Wunderexemplar von einer Baulücke in Deutz hat mir – optisch – viel Freude bereitet.
Blick auf eine Kreuzungsecke bei Sonnenschein. Im Schatten liegt ein Flachbau, in dem eine Trinkhalle untergebracht ist. Auf dem Dach zwei Satelitenschüsseln, vor der Trinkhalle einige Barstühle. Links läuft eine Person auf dem Bürgersteig unter einem Spielstraßen-Schild von uns weg.
An diesem Bochumer Büdchen war viel los uns ich musste eine Weile warten, bis ich keine Kunden im Bild hatte. Das kleine Grundstück auf der Ecke hat hier wirklich gute Verwendung gefunden.

Die Mauer als Leinwand

Ein besonderes Feature dieser zu klein geratenen Bebauungen sind die riesengroßen Flächen, die sich über ihnen erheben. Manchmal sind es raue Brandmauern aus Ziegeln. Manchmal sind es aber auch einfach glatt verputzte, fensterlose Wände, die seit Jahrzehnten auf den Lückenschluss warten. Hier eröffnet sich eine zunehmend beliebte Möglichkeit der kreativen Nutzung: Die Mauer wird zur Leinwand für Street Art. Gelegentlich sind auch noch verblasste alte Werbungen sichtbar, oder auch politische Graffiti. Unübersehbar in Berlin war die Hommage an die drei Brüder Boateng im Wedding: „Gewachsen auf Beton“. Eine Mischung von Street Art, Kiezbotschaft und Werbung, inhaltlich wohl etwas verkürzt und erstellt im Auftrag von Nike.

Ein in der Dämmerung aufgenommenes Foto einer großen Kreuzung. Die gegenüberliegende Ecke der ansonsten mehrstöckigen Bebauung ist nur einstöckig, darin ein Matratzengeschäft mit 68 Prozent Rabatt und viel sehr auffälliger Werbung. Darüber, auf einer Brandmauer, ein Grafiti. Der Text lautet "Gewachsen auf Beton", man sieht schwarz-weiß-Porträts der drei Brüder Boateng.Ganz oben im Giebel ein schnörkeliges Logo und das Wort "united".
Auch große Unternehmen platzieren ihre Botschaften auf Brandmauern. Hier war einem Blogeintrag zufolge nicht lokale Fans der Fußballerbrüder am Werk, sondern die Firma Nike.
Ein Zufallstreffer aus einer Zeit, als ich für Baulücken noch keinen Blick hatte, aus Saarbrücken.
Blick entlang einer Wohnstraße mit drei- oder vierstöckigen Nachkriegswohnhäusern. auf der Ecke eine einstöckige Flachdachbebauung. Die Fassade soll nach Backsteinfachwerk aussehen, die Ecke ist für die weiße Eingangstür abgeflacht. Die Brandmauer links der Eckenbebauung ist weiß und Blau mit einem Muster gestrichen.
Im Essener Stadtteil Rüttenscheid hat sich eine Baulückenbebauung einen Western-Look zugelegt. Die hellblau und weiß gestaltete Fassade distanziert sich!

Hommage an die Brandmauer

Das Rohe, Raue von Brandmauern verschwindet mit der zunehmenden Bebauung von Nachkriegslücken langsam aus dem Stadtbild. Deshalb hier eine kleine Hommage an die Brandmauer, die Kulisse der Nachkriegskindheiten, wie der Dresdner Fotograf Harf Zimmermann im Vorwort zu seinem Buch „Brand Wand“ schreibt. Das Hervortreten dieser besonders soliden Wände, die das Überspringen von Bränden zwischen Gebäuden verhindern sollen, sei ein typischer Anblick der nachkriegszerstörten Innenstädte gewesen. Mauern der Scham, die von der Zerstörung erzählen, gebaut aus Backsteinen. Später sind sie mit Asbest- und Eisenplatten bedeckt worden, auch das ein typischer Anblick der kriegszerstörten und noch immer nicht geheilten Stadt.

Mit viel Glück offenbaren Brandmauern noch die Form der ehemaligen Nachbargebäude. Diese auf Instagram mit #hausabdruck verlinkten besonderen Fälle werden mittlerweile ebenfalls manchmal künstlerisch ausgeformt und für Interventionen genutzt.

Neben dem Juwelier Istanbul übers Reisebüro zum Istanbul-Grill mit klassischer Brandmauer – gefunden in Wanne-Eickel.

Das Ohlàlà

Das kleine, flache Gebäue scheint auch eine passende Form zu sein zum Feiern, vielleicht gar für den Exzess. Denn bei meinen teils zufälligen, teils zielgerichtet erstellten Fotos waren einige dabei, die für ihre nächtliche Aktivität berühmt-berüchtigt sind oder waren. Vielleicht boten – und bieten – die Provisorien durch ihr nicht auf Dauerhaftigkeit angelegtes Wesen eine gewisse flüchtige Freiheit inmitten der wohlgeordneten Stadt?

Quasi der schönste Flachdachbau, mit dem Flair von Las Vegas, ist die legendäre Kneipe Zum Silbersack in Hamburg St. Pauli.
Hier soll es heiß hergegangen sein, als das Tropicana noch lief. Heute ist der kleine Bau in der Hertener Innenstadt verschwunden.
Eine Straße mit Kopfsteinpflaster, mehrere Bauformen nebeneinander, mehrere Kneipenschilder. Im Vordergrund der Flachbau mit weißer Fassade und roten Markisen: ein Karaoke-Club. Die Schilder sind blau mit roter Schrift. Die Seitenwand Orange-Grün gestrichen, das Haus ganz links gelb.
Aus der Serie: Vergnügungen der Nacht in wirklich kleinen Flachdachgebäuden. Hier wird nicht nur getrunken, sondern auch gesungen. Im Bremerhavener Stadtteil Lehe gingen früher die Matrosen der Schiffe aus, die in Bremerhaven angelegt hatten. Deshalb gibt es viele Kneipen und sonstige Etablissements.
Früher die „Melodie-Bar“, seit 1972 das „Bal d’Amour“ und bald ein neues Wohngebäude: Pforzheim beugt sich der Digitalisierung auch im Bereich Erwachsenenunterhaltung.
No more dancing in this Discothek if Google is to be believed … Vanishing in style in central Wilhelmshaven.

Gyrosdönerpommespizza – unter Flachdach noch leckerer

Auffällig ist, dass Imbisslokale in Nachkriegsprovisorien eine passende Heimat zu finden scheinen. Jedenfalls habe ich viele schöne solcher Exemplare gefunden.

Blick über eine Straßenbahnhaltestelle und eine Straße hinweg auf die gegenüberliegende Seite mit älterer, ungepflegter Bebauung. In einer Baulücke ein einstöckiger Flachbau. Darin befindet sich der "Olymbpia-Grill" mit Coca-Cola-Werbeschild. Die auf dem Bild sichtbare Brandmauer ist mit rostroten Schindeln, Eternitplatten o.ä. verkleidet.
Diese Bochumer Baulücke zeigt eine besondere Form der Baulückenverschönerung: die verkleidete Brandmauer.Immerhin teilen sich hier zwei Gewerbe die Lücke!
Ein schräger Blick entlang einer Häuserzeile mit Gebäuden aus der Vorkriegszeit in verschiedenen Stadien der Renovierung. Das mit Kacheln und Eternitplatten verkleidete Gebäude rechts im Bild zeigt seine Brandmauer, uaf der eine Esso-Werbung angebracht ist. In der Mitte des Bildes eine einstöckige Flachdachbebauung, verkleidet mit grauen und gelben Fliesen. Darin befindet sich die Pizzeria Ciao Ciao.
Selbst wenn ich nicht wüsste, wo dieses Bild entstand, ich würde aufs Ruhrgebiet tippen. Da ich es aber gemacht habe, weiß ich auch noch wo: An einem sonnigen Sonntag in Bochum. Besondere Freude hat mir natürlich hier die Kachelverkleidung gemacht.
Teil einer großen Kreuzung mit Elektrokabeln für Straßenbah, breiter Straße und rechts im Bild einer Autobahnabfahrt. Zwischen vierstöckigen Wohngebäuden stehen zwei Flachdachprovisorien mit der Beschriftung Mossul Grill und Nali Brot.
An der wuseligsten Kreuzung Essens – am Wasserturm an der Steeler Straße – haben mich diese beiden schönen Provisorien umdrehen und einen Parkplatz suchen lassen, damit ich sie noch hier im Beitrag unterbringen kann.

Die Schaufassade

Einen gewissen Sinn für den Auftritt haben besonders eher mickrige kleine Provisorien. Einem Pfauenrad gleich spreizen sie sich zu imposanterer Größe auf, indem sie Aufsätze tragen, die keine Funktion, aber eine optisch vergrößernde Wirkung haben.

Boulangerie mit Schaufassade – oder ist es nur ein Schaugiebel? Die kleine Boulangerie in Krefeld war leider geschlossen beim winterlich-frostigen Besuch in Krefeld.
Baulücke zwischen einem älteren Wohnhaus links und einem mit grünem Netz versteckten Baustelle. Die Lücke ist von einem einstöckigen gekachelten Gebäude gefüllt, auf dem ein aufwendig gestaltetes Ladenschilt montiert ist.
Schon seit einiger Zeit Geschichte: Den Sanitärhandel Kusserow und Becker im Berliner Stadtteil Neukölln gibt es seit 2022 nicht mehr und die Buchstaben wurden nach meinem Kenntnisstand leider auch nicht gerettet.

Die Zwillingsprovisorien

Ist die Lücke ausreichend groß, bilden sich kleine Flachdachcommunities. Ich habe jedenfalls mehrere Doppellückenbebauungen dokumentiert.

Gastro-Nutzung und ein kompaktes Reisebüro – in Köln-Kalk teilen sich zwei Gewerbe eine Lücke und setzen ihren Läden große Schilder auf!
Eine Straße mit Wohngebäuden aus den 70er und 80er-Jahren, geparkte E-Roller, einige Autos. In der einstöckig bebauten Baulücke gibt es eine Lohnsteuerberatung und eine Lounge mit dem Namen BARbados. In letzterer war zur Zeit des Fotos ein Corona-Schnelltestzentum untergebracht.
Die Lounge BARbados und die Lohnsteuerberatung haben sich gegenüber der Moschee im Berliner Wedding eingerichtet.
Platz für einen Pizzalieferdienst und eine Fahrschule bietet eine recht große Baulücke zwischen mehrstöckigen Nachkriegsgebäuden. Im Vordergrund ein Grünstreifen und mehrere Fahrspuren, im Hintergrund sieht man die Wohngebäude der nächsten Reihe.
2009 eröffnete ein paar Häuser weiter links das Einkaufszentrum Limbecker Platz mit spektakulär futuristischer Fassade. Es ersetzte einen altehrwürdigen Karstadt-Bau. Irgendwie ist es ein bisschen rührend, dass selbst in dieser mittlerweile sehr beliebten Lage eine so große Baulücke im Essener Zentrum überlebt hat. Ich konnte es nicht ganz sehen, aber ich vermute, dass es nur einstöckige Gebäude mit hohen Schaufassaden sind.

Die Jagd auf erschlossene Flächen

Gefühlt hat jede Stadt, die mit Zerstörungen im zweiten Weltkrieg umgehen muss, ein Baulückenprogramm aufgelegt. Das ist ökonomisch sinnvoll. Denn die noch unbebauten Grundstücke haben einen großen Vorteil: Sie sind bereits erschlossen, verfügen über alle Infrastruktur. Will man hier bauen, muss man keinen Zentimeter Grünfläche dafür plattmachen. Städte wollen und müssen verdichten, um den benötigten Wohnraum zu schaffen oder um Investoren die gewünschten Grundstücke zur Verfügung zu stellen. Ob Verdichtung – oder schöner „Innenentwicklung“ –: Brachen und Lücken sind zunehmend wertvoll. Stuttgart zum Beispiel pflegt eine Datenbank, in der man nach Lücken suchen kann. Das im Krieg stark zerstörte Köln wusste schon in den 80ern um den Wert der Baulücke und legte ein entsprechendes Programm auf.

Flaches einstöckiges Gebäude mit der Beschriftung "Bistro am Luistenbad", daneben eine Metalltür mit dem Schriftzug "Hoteleingang und ein Tor zum Hof. Über dem Bistro erhebt sich eine glatt verputzte Wand des Nachbarhauses, Autos sind geparkt.
Warten wir, bis das hier richtig bebaut wird – das Bistro am Luisenbad im Berliner Stadtteil Gesundbrunnen hat über die Jahre seinen provisorischen Charakter nicht abgelegt – auch wenn der Efeu sich erkennbar schon länger dort breit gemacht hat.
Eine graue, etwas trostlose Szene. Links im Bild ein Wohn- und Geschäftshaus mit leerem Schaufenster, rechts im Bild ebenso. Die Fassade ist beige gekachelt, auf dem leeren Schaufenster prangt noch ein Logo. In der Mitte eine Baulücke, die von einer Mauer zur Straße abgeschirmt wird. Die Mauer ist lila, gelb und türkis gestrichen, aber die Farben sind verwittert. Ein Motorradfahrer ganz in schwarzer Montur saust vorbei.
Im Bremerhavener Stadtteil Geestemünde kaschiert eine Wand in karibischen Farben eine Baulücke. Hier gibt es keine Bebauung, nur ein paar Pflanzen besiedeln das Lückengrundstück. Die Seitenwand des linken Hauses hat Fenster, die zur Lücke zeigen. Man stellte sich beim Bau wohl auf eine dauerhafte Lückensituation ein.
An der Hauptstraße von Wanne-Eickel hat sich ein Provisorium verstetigt. Das Plakat darüber ist sogar beleuchtet – man richtet sich ein mit dem Schwebezustand.

Die Bremsklötze

Leider gibt es nicht viele systematische Analysen darüber, wie viele Baulücken es noch gibt, welche Qualitäten sie haben und warum sie gelegentlich so ein Eigenleben führen, zu rätselhaften Zeitkapseln werden. Die Studie „Entwicklung von umsetzungsorientierten Handlungsschritten zur Mobilisierung von Baulücken und zur Erleichterung von Nutzungsänderungen im Bestand in Innenstädten NRWs“, die das Geographische Institut der Universität Bonn 2006 veröffentlichte, blickt zwar nur auf ein Bundesland, aber ich vermute, dass die Ergebnisse dennoch eine gewisse Allgemeingültigkeit haben. Und es ist wohl ein Thema störrischer Eigentümer*innen: „Das mangelnde private Verkaufsinteresse war in der landesweiten Umfrage in Verbindung mit der privaten Bevorratung der eindeutig am häufigsten genannte Grund, der einen Baulückenschluss behindert. Beide Ursachen wurden von jeweils rund 90 Prozent aller befragten Städte und Gemeinden als das wesentliche Hemmnis angegeben.“ Wer hätte das gedacht? Weitere Gründe sind der Studie zufolge: Erbengemeinschaften, fehlende Bodenordnung, Nachbarschaftskonflikte, Abstands- und Stellplatzregelungen.

Blick auf eine Reihe von Gebäuden: links ein mehrstöckiges Parkhaus, in der Mitte eine einstöckige Garage mit gelblicher Backsteinfassade und rchts ein leerstehendes Wohnhaus mit ehemals hübschem Erker und verrammeltem Ladengeschäft im Erdgeschoss.
Auch in Belgien fand ich ein Baulückenprovisorium, nahe des Hauptbahnhofs in Lüttich, dessen Gestaltung von Santiago Calatrava besonders mit dem gammeligen Charme der Umgebung kontrastiert.

Der Appell: Bloß langsam machen

Die kleinen Flachdachbauten sind aus meiner Sicht eine wertvolle visuelle Erinnerung daran, was Bombardierungen und Kriege mit Städten machen. Sie sollten bleiben, für Abwechslung im Stadtbild sorgen und als „Erinnerungslücken“ für nachrückende Generationen.

Meine persönliche Erinnerungslücke befindet sich auf der Rüttenscheider Straße in Essen. In der Nummer 128 befand sich „Kindermoden Brauckmann“, wo ich als Kind in den 70er-Jahren immer mal wieder mit praktischer Kleidung ausgestattet wurde. Über Jahre fristete der kleine Laden, in den nach und nach andere Geschäfte einzogen, ein sparsames Dasein an der Flanier- und Gastromeile. Heute ist die Fassade schwarz angemalt und kurzfristige Pop-up-Nutzungen wechseln sich ab.

Eigentlich sollte hier in dieser beliebten Gegend schon längst neu gebaut sein – praktischerweise befindet sich direkt daneben auch noch ein zweistöckiges Provisorium –, doch gibt es Probleme mit der Frage, in welcher Flucht die Fassaden anzuordnen sind. Manche stehen in der Nachkriegsordnung mit etwas Abstand zur Straße, andere weiter vor, wie es die Planung von 1900 vorsah – so auch mein Ex-Kindermodengeschäft. Die Stadt bleibt an dieser Stelle bei der Nachkriegsplanung, die bei aller autogerechten Planung doch schön viel Platz für Fußgänger vorsieht. Eigentümer*innen und mögliche Investor*innen wollen nicht in die hintere Reihe zurücktreten und dadurch wertvollen Raum verlieren. So starren sich alle gegenseitig an und warten, dass die andere Partei sich bewegt. Vielleicht bleibt der einen oder anderen Erinnerungslücke ja doch noch etwas Zeit …

Kindermoden Brauckmann, unter diesem Namen kenne ich das kleine Geschäft auf der Rüttenscheider Straße noch. Das Bild ist auch schon nicht mehr aktuell: Die Fassade ist jetzt schwarz angestrichen in Erwartung des nun jetzt wirklich bald anstehenden Abrisses. Im Hintergrund: die katholische Kirche St. Ludgerus.

 

Wer noch nicht genug hat:

Das online-Magazin moderneRegional hat 2021 das Heft „Auf Lücke – von Fehlstellen und Stolpersteinen“ herausgebracht. Unter anderem untersucht Uta Winterhager darin originelle Baulösungen für besonders schmale Lücken in Köln. Darin fand ich auch den Hinweis auf die Publikation „Bauen in der Lücke“, die eine studentisch initiierte Ausstellung 1984 in Köln begleitete. Der Titel zog mich magisch an – kein Wunder, das Foto stammt von Axel Hütte. Innen tobt die Postmoderne, schmaler und breiter.

Der Instagram-Account Heiko’s Houses ist generell zu empfehlen und ganz besonders für Baulückenfans interessant. Schwerpunkt Berlin.

Die beiden Fotografen Peter Bruns und Claas Möller arbeiten derzeit am Thema „Hamburger Flachbauten“ und werden wohl noch 2024 eine Publikation über ihren dokumentarischen Blick auf Hamburger Baulücken und ihre provisorische Nachkriegsbebauung herausbringen.

Und ich bleib am Thema! Wer schöne Lücken findet: Ich freue mich über Post mit Tipps. Dankeschön schonmal.

 

Summary

The cities that were heavily destroyed in the Second World War still have a large number of original gaps between buildings that characterize the cityscape. An exploration of these visual stumbling blocks, whose temporary use has often become permanent.