Freiheit der Form: Sowjetmoderne Bauten der 70er- und 80er-Jahre

Ein Gastbeitrag von Jiří Hönes, der auf seinen Reisen in Russland an den ungewöhnlichsten Orten noch ungewöhnlichere Architekturüberraschungen dokumentiert hat.

Zirkusgebäude, die geformt sind, wie ein Ufo, Bibliotheken von der Größe eines Kraftwerks und luftig-leichte Markthallen – all das hat Jiří in den vergangenen gut zwei Jahren auf seinen Reisen in Russland mit der Kamera festgehalten. Er lebt und arbeitet in Moskau. Wenn er nicht als Redakteur für die Moskauer Deutsche Zeitung unterwegs ist, erkundet er das Russland jenseits der Hauptstadt. Seine Reisen führen ihn in glänzende Millionenstädte ebenso wie in eher kleine Industriestädte.

Der gebürtige Stuttgarter hat einen lange kultivierten Geschmack für schöne Betonbauten, für Straßenbahnen, zu denen er auch bloggt, und für das Erkunden des ganz Normalen. Ich schätze seinen dokumentarischen Blick und seinen Sinn fürs Skurrile im Alltag. Hier im Blog zeigt er einige seiner architektonischen Funde der Sowjetmoderne aus der Zeit 1970er- und 1980er-Jahre. Dankeschön für diese außergewöhnliche Gastgalerie und die interessanten Texte dazu!

 

Dienstleistungshaus in Kasan: Im September 2018 war ich drei Wochen in Russland, Aserbaidschan und Georgien unterwegs. Ausgangspunkt der Bahnreise war Kasan, die Hauptstadt der Republik Tatarstan. Deren Wahrzeichen ist gemeinhin die 2015 fertiggestellte Kul-Scharif-Moschee im Gelände des historischen Kremls. Doch was mir zuallererst ins Auge fiel, war ein Geschäftshaus gegenüber dem Bahnhof. Dessen Fassade erinnerte mich etwas an die aus der Heimat bekannten Hortenkacheln. Erbaut wurde das Dom Byta, wie man zu Sowjetzeiten solche Dienstleistungszentren nannte, von 1972 bis 1978. Architektin war Swetlana Galanowa.
Tschuwaschisches Opern- und Ballettheater in Tscheboksary: Zugegeben, nach Tscheboksary fuhr ich in erster Linie wegen eines Gebäudes, das ich hier nicht zeigen kann: der 2004 erbaute Sitz der tschuwaschischen Regierung in Form eines postmodernen Turms. Der steht oberhalb einer künstlichen Bucht, die durch den Bau eines Stausees an der Wolga entstanden ist. Und direkt gegenüber befindet sich ein Juwel der späten Sowjetmoderne. Das tschuwaschische Opern- und Ballettheater wurde 1985 fertiggestellt und hat mich an Kenzo Tanges Bauten in Skopje erinnert. Mit fast schon industrieller Ästhetik thront es am Hang über der Bucht, die riesigen Wappen Tschuwaschiens und Tscheboksarys links und rechts der Treppe geben der Szenerie noch eine gewisse monumentale Note. Die Architekten Ruben Begunz und W. Teneta wurden für den Bau 1987 mit dem Staatspreis der Russischen Sowjetrepublik ausgezeichnet.
Staatliches Musiktheater in Omsk: Entdeckt hatte ich das Staatliche Musiktheater Omsk schon im Februar 2019, doch das Foto vom Sommer ist besser gelungen. Damals machte ich eine längere Reise durch Sibirien, deren erster Stopp in Omsk war. Ein Bekannter, der der Sowjetmoderne allgemein wenig zugeneigt ist, verglich das Gebäude mit einer Skisprungschanze. Es befindet sich nahe der Mündung des Om in den Irtysch und entstand zwischen 1974 und 1982 nach Plänen von D. Lurje, N. Struschin und N. Belousowa.
Puschkin-Bibliothek in Omsk: Etwas brachialer geht es auf der anderen Seite des Om zu. Die Staatliche wissenschaftliche Regionalbibliothek Omsk oder kurz Puschkin-Bibliothek ist allein schon von ihren Ausmaßen her beeindruckend. Der Bau wurde ab 1982 von Galina Narizina und Jurij Sacharow geplant, die Arbeiten begannen 1986. Fertig wurde der Koloss erst nach dem Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1995. Die acht je rund 3,5 Meter hohen Skulpturen in den Nischen stammen von dem Bildhauer Wasilij Trochimtschuk und zeigen Figuren aus der russischen Geschichte.
Einkaufszentrum GUM Rossija in Nowosibirsk: Eine Nachtfahrt östlich von Omsk lieg die sibirische Metropole Nowosibirsk. Die ist vor allem berühmt für den Konstruktivismus. Die zweite Phase der sowjetischen Moderne hat hier weniger Spuren hinterlassen. Doch auch hier wird man fündig, zum Beispiel mit dem GUM Rossija. Mit seiner schwarzen Fassade und dem vorgelagerten Turm zählt es zu meinen Favoriten in dieser Serie. Die Pläne für den Einkaufstempel stammen von I. Grigorjewa und N. Petrakow. Von der Genehmigung bis zur Eröffnung im Jahr 1988 vergingen ganze 14 Jahre. Früher im Eigentum der Stadt, wurde es im Jahr 2006 an einen privaten Investor verkauft. Das macht sich durch die zahlreichen Werbeschilder und das Riesendisplay bemerkbar.
Regionalgericht in Krasnojarsk: Die dritte und östlichste der sibirischen Millionenstädte ist Krasnojarsk, Zentrum der Aluminiumindustrie am Jenissej. An Gebäuden der Sowjetmoderne mangelt es hier nicht. Eines davon fiel mir besonders auf, weil es mich ein wenig an deutsche Architektur erinnerte. Seit 1995 beherbergt es das Krasnojarsker Regionalgericht, früher handelte es sich jedoch um das Haus der politischen Bildung des Regionalkomitees der KPdSU. Über das Baujahr und die Architekten konnte ich leider nichts in Erfahrung bringen.
Lermontow-Theater in Abakan: Abakan im Süden Sibiriens ist die Hauptstadt der Republik Chakassien. Hier gefiel mir unter anderem das 1978 eröffnete Lermontow-Theater mit seinem großflächigen Mosaik.
Askakow-Bibliothek in Uljanowsk: Die Hauptattraktion für Architekturbegeisterte in Lenins Geburtsstadt Uljanowsk ist mit Sicherheit das Lenin-Museum, das zu dessen 100. Geburtstag 1970 eröffnet wurde. Bei meinem Besuch im Oktober 2019 liefen allerdings die Renovierungsarbeiten anlässlich des nahenden 150. Geburtstags und so befanden sich Teile des Gebäudes hinter Gerüsten. Doch auch kleinere Fundstücke sind mitunter interessant, so diese Bibliothek, zu der ich leider keine weiteren Informationen gefunden habe. Auch sie erinnerte mich mit der Glasfassade an westdeutsche Schulbauten der 1970er Jahre. Unverkennbar sowjetisch ist dagegen das monumentale Relief.
Zirkus in Tscheljabinsk: Über sowjetische Zirkusbauten könnte man ganze Serien anlegen. Zu den elegantesten gehört für mich der in Tscheljabinsk im Ural. Er wurde von 1973 bis 1979 nach Plänen von J. Motow, L. Onischtschenko und J. Ruwinow erbaut. Das Foto entstand auf einer Reise durch die Großstädte des Ural im Dezember 2019.
Kino Udokan in Tschita: Im Sommer 2020 bereiste ich den Fernen Osten Russlands. Eine Station dabei war das durch und durch sowjetisch geprägte Tschita, Hauptstadt der Region Transbaikalien. Die Stadt beeindruckt mit einer Vielzahl an Mosaiken, so auch hier am Kino Udokan, welches 1976 eröffnet wurde. Während Kinobauten aus Sowjetzeiten andernorts oft leer stehen oder abgebrochen werden, erfreut sich das Udokan großer Beliebtheit und gilt als Sehenswürdigkeit der Stadt.
Markthalle in Chabarowsk: Auch in Chabarowsk herrscht kein Mangel an Sowjetarchitektur. Eines der Highlights der nur rund 50 Kilometer von der chinesischen Grenze entfernten Großstadt am Amur ist der Zentrale Lebensmittelmarkt mit seiner 1986 eröffneten Halle.
Eisenbahnpostamt in Wladiwostok: Als Endpunkt der Transsibirischen Eisenbahn steht Wladiwostok für viele geradezu sinnbildlich für Fernweh und Reiselust. Die Hauptstadt des Föderationskreises Fernost ist mit ihren engen und oft steilen Straßen und der Lage am Meer äußerlich eine der am wenigsten typisch russischen Städte. Ein beeindruckendes Zeugnis der Sowjetmoderne findet sich direkt gegenüber dem Bahnhof in Form des 1970 bis 1973 erbauten Eisenbahnpostamts. An der Straßenseite ist ein Relief mit Post- und Fernmeldemotiven angebracht. Architekt war G. Slobin.
Kulturpalast Metallurg in Slatoust: Slatoust ist das Zentrum der russischen Klingenherstellung und gehört für mich zu den interessantesten Städten des Landes. Die Lage im Uralgebirge in Kombination mit der Schwerindustrie geben dem Ort ein ganz besonderes Flair. Architektonisch dominiert hier der Stalin-Klassizismus, doch auch die Moderne hat bemerkenswerte Zeugnisse hinterlassen. Eines davon ist der Kulturpalast Metallurg, der 1981 für die Arbeiter des örtlichen Stahlwerks gebaut wurde.
Bahnhof in Slatoust: Ebenfalls aus den 1980ern stammt der Bahnhof der Industriestadt. Er wurde 1986 eröffnet, Architekt war W. Popow. Marmor, Wandbilder und die geschwungene Decke mit Holzverkleidung geben dem Bau im Inneren eine geradezu sakrale Atmosphäre. Neben Tscheljabinsk und Wladimir ist es für mich der angenehmste Bahnhof in Russland, an dem ich je ein- und ausgestiegen bin.
Zirkus in Kemerowo: Ein weiterer Zirkusbau kam mir in der Kusbass-Hauptstadt Kemerowo unter. Im Gegensatz zu demjenigen in Tscheljabinsk hat er eine achteckige Grundform. Er wurde 1973 eröffnet, nachdem der hölzerne Vorgängerbau einem Brand zum Opfer gefallen war.
Kino Sibir in Nowokusnezk: Die zweite große Stadt im Kusbass ist Nowokusnezk. Hier war es wiederum vor allem ein Kino, das mich in seinen Bann zog. Das Sibir wurde 1967 eröffnet und war das erste Breitbildkino in Sibirien mit einer für damalige Verhältnisse riesigen, 24 auf 11 Meter großen Leinwand. Den Zerfall der Sowjetunion hat der Filmpalast nicht lange überlebt, es wurde Ende der 1990er Jahre (nach anderen Quellen 2002) geschlossen. Zahlreiche Zeitungsartikel, Blog- und Forenbeiträge zeigen jedoch, dass das Kino in den Herzen der Nowokusnezker weiterlebt. Zwischenzeitlich wurde es wohl als Verkaufsraum genutzt, jetzt soll bald eine evangelische Kirchengemeinde einziehen. Der schnittige Schriftzug ist späteren Datums, ursprünglich war der Name des Kinos in für die 1960er Jahre typischen schlanken Lettern angebracht.
Städtischer Kolchosmarkt in Tscherepowez: Tscherepowez ist – ähnlich wie Slatoust – maßgeblich durch den Stalin-Klassizismus geprägt. Doch mit der 1976 fertiggestellten zentralen Markthalle hat die nordrussische Stahlstadt auch einen bemerkenswerten Bau der Moderne vorzuweisen. Die eigenwillige Dachkonstruktion wirkt von innen wie eine fliegende Untertasse, von außen dagegen erschein der Bau weitgehend eckig.
Bahnhof in Lipezk: Ein weiteres interessantes Bahnhofsgebäude befindet sich in der zentralrussischen Industriestadt Lipezk. Pläne für den Bau begannen bereits 1976, doch fertiggestellt wurde er erst 1994. Der ursprüngliche Plan, auch den Busbahnhof zu integrieren, wurde aufgegeben. Der Bau des Architekten R. Sywenkij soll an einen Schmetterling mit gespreizten Flügeln erinnern. Eine Urban Legend besagt, dass Sywenkij später nach Kanada ausgewandert ist und dort den gleichen Bau noch einmal realisiert hat. In Wirklichkeit lebte er jedoch bis zu seinem Tod im ukrainischen Lwiw.
Dienstleistungshaus in Pjatigorsk: Eine interessante Mischung aus Glasfassade und Mosaik bietet das 1981 eröffnete Dom Byta (Dienstleistungszentrum) im Heilbad Pjatigorsk im Nordkaukasus. Auf jüngeren Bildern ist zu sehen, dass das Mosaik bis vor Kurzem noch von Werbetafeln verdeckt war. Glücklicherweise kann man es jetzt wieder bestaunen.
Busbahnhof in Kaliningrad: Der Busbahnhof Kaliningrad ging 1971 in Betrieb. Mit seiner aluminiumverkleideten Fassade ist er ein exzellenter Vertreter des damals beliebten Space-Age-Designs. Bürger setzen sich derzeit dafür ein, den Bau als Kulturdenkmal eintragen zu lassen.

Summary

My friend Jiří Hönes currently lives and works in Moscow. When he’s not writing articles for the Moscow German newspaper, he travels the Russian cities on the quest of interesting old tram networks and the skulptural architecture of soviet times. I am very proud to present my first real guest gallery with Jiří’s pics of  truely remarkable 70s and 80s buildings – from market halls to cinemas, train station buildings to circus venues.