Phillip Ost ist eine der Konstanten in meinem Social-Media-Universum und ein kundiger Gesprächspartner rund um Nachkriegsarchitektur und besonders die Fotografie der Nachkriegsarchitektur. Netterweise folgte er Anfang des Jahres meiner Einladung, darüber zu sprechen, wie zeitgenössische und moderne Fotografen den Blick auf Nachkriegsarchitektur prägen.
Heute schmunzelt man über Architektur, die besonders schrill oder „instagrammable“ ist – also besondere Hinguckerperspektiven ermöglicht und so schnell populär wird. Es ist aber schon von älteren Größen wie Le Corbusier bekannt, dass sie besonders um die Bedeutung von Photographie für die Vermittlung ihrer Gebäude wusste. Manche Architekten pflegten langjährige Beziehungen zu ihren Fotografinnen oder Fotografen, weil sie wissen, dass diese der gestalterischen Idee verlässlich gerecht werden.
Die Frage stellt sich: Gibt es Unterschiede zwischen damals und heute? Fotografierte man die strenge Form der 60er-Jahre-Entwürfe anders als heutige Neubauten? Ist die Ästhetik heute eine andere?
Ich wollte darüber gerne mit Phillip sprechen, weil er als @biblio_philo nicht nur einen anregenden Instagram-Kanal voller Buchbesprechungen, Architektur- und Kunstfotos pflegt, sondern einen ebenso nützlichen tumblr zur deutschen Nachkriegsmoderne unterhält. Letzterer ist eine Schatzkiste, randvoll mit überwiegend historischen Fotos.
Phillip lebt und studiert in Münster. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften beschloss der heute 35-Jährige, sich dem zu widmen, was ihn wirklich interessiert: der Kunstgeschichte. Seine Schwerpunkte – wenig überraschend – sind Kunst und Architektur der Nachkriegszeit.
Du postest ja regelmäßig Bilder von Nachkriegsarchitektur. Warum diese Epoche der 50er- bis 70er-Jahre?
„Mein Interesse an der Nachkriegsmoderne war eigentlich eine zwangsläufige Weiterentwicklung meines ursprünglichen Interesses an der Architektur der klassischen Moderne, also Le Corbusier, Mies oder Gropius, um nur einige zu nennen. Denn irgendwann wurde auch die Schülergeneration interessant und die Fortsetzung beziehungsweise Wiederaufnahme von Entwicklungslinien der Moderne nach dem Zweiten Weltkrieg. Und so begann meine Leidenschaft für die Nachkriegsarchitektur, die bis heute ungebrochen anhält.“
Du zeigst vor allem Bilder aus der Entstehungszeit der Gebäude. Warum?
„Mich interessiert der Kern, die ursprüngliche Konzeption eines Gebäudes. Deshalb ist es aus meiner Sicht am schönsten, das Gebäude in seiner pursten Form direkt nach dem Bau sehen zu können. Man kann nachvollziehen, was der Architekt sich für den jeweiligen Bauplatz vorgestellt hat, ohne dass spätere Veränderungen diese Idee überdecken. Ich denke da besonders an Werbebanner, bauliche Veränderungen – oder einfach die nachfolgende Bebauung auf den Nachbargrundstücken. Besonders in den kriegszerstörten Innenstädten verdichtete sich die Bebauung ja nach und nach oft noch sehr.“

Das heißt, der heutige Zustand interessiert dich gar nicht so sehr? (frage ich mich leicht panisch, weil das ja schließlich ist, was ich mache)
„Doch, ich finde es oft sehr interessant zu sehen, wie die Gebäude 50, 60 oder 70 Jahre später dastehen. Was hat sich verändert, was ist dazugekommen? Das zeigt ja, wie mit der Architektur umgegangen wurde seit dem Bau und wie sich die Architektur im gewachsenen Kontext behauptet.“
Welche Qualitäten sind in der Architekturfotografie der Nachkriegszeit wichtig?
„Darüber musste ich erstmal nachdenken vor unserem Gespräch. Wenn ich Bilder ansehe, weiß ich ja sehr genau, was mir gefällt und was nicht, welche Bilder ich intuitiv aussuche, wenn ich die Auswahl habe. Ich sehe ja tausende von Bildern an auf der Suche nach dem idealen Foto, um ein bestimmtes Projekt, das ich besonders interessant finde, in meinem tumblr vorzustellen. Manchmal finde ich auch keines, das mir gefällt, und dann zeige ich das Objekt unter Umständen auch erstmal nicht. Das heißt: Ich habe natürlich Vorstellungen davon, welche Eigenschaften ein Bild haben soll.“

Und welche sind das?
„Bei der Architekturfotografie ist es ein bisschen wie bei einem Porträt. Man hat eine Komplettansicht, ein Dreiviertelprofil, ein Halbprofil … Man begegnet auch dem Gebäude auf Augenhöhe. Nichts gegen verschiedene Blickwinkel oder auch eine Ansicht von Oben; worum es mir geht, ist, dass das Bild baudokumentarisch funktionieren muss. Das Gebäude wird so dokumentiert, wie es dort steht und wie es vom Architekten oder von der Architektin intendiert war. Als Betrachter muss ich mir Zusammenhänge nicht zusammenphantasieren, weil ich vom Fotografen nur Ausschnitte von Teilen der Fassade bekomme.
Das Gebäude in seiner Gesamtheit verstehen zu können und dabei durchaus auch Details zu sehen, das macht gute Architekturfotografie für mich aus. Kommt dann der künstlerische Anspruch mit Licht und Schatten dazu – wie man es von den großen Architekturfotografen vor allem auch in Schwarz-Weiß kennt – dann treffen sich das Künstlerische und das Handwerkliche auf ideale Weise.“

Künstlerisch-abstrakte Fotos von Fassadenstrukturen oder schicke Corner-Lookups funktionieren also nicht als ernstzunehmende Architekturfotos?
„Aus meiner Sicht nicht. Weil der Kontext fehlt. Das kann man natürlich machen, keine Frage, aber für mich ist das nicht so interessant. Sie helfen mir nicht beim Verständnis von Architektur. Das ist ein Social-Media-Phänomen, das einfach parallel zu dem besteht, was ich als Architekturfotografie interessant finde.“
Detailaufnahmen erzählen auch viel über ein Gebäude, die Texturen oder seine besondere Ästhetik.
„Das sehe ich auch so. Jemand wie Yokio Futagawa, der die Gebäude von Mies van der Rohe fotografiert hat, hat zum Beispiel auch immer ästhetisch sehr ansprechende Close-ups von Details gemacht, diese dann aber nie aus dem Kontext herausgenommen. Sie waren dann Teil von Serien, die das Ganze begreifbar machten, auch im Rahmen seiner freien künstlerischen Arbeiten. Heinrich Heidersberger, der viel für die Braunschweiger Schule gearbeitet hat, besaß auch einen Blick für liebenswerte oder ästhetisch ansprechende Details, die er dann in seinem persönlichen Portfolio vermarktet hat.“

Gibt es denn wesentliche Unterschiede zwischen den Qualitäten der Architekturfotografen der Nachkriegszeit und den heutigen?
„Aus meiner Sicht hat sich da nicht sehr viel verändert. Der Anspruch, ein Gebäude lesbar, begreifbar zu machen, ist der gleiche. Die Technik hat sich natürlich stark verändert. Früher hatten Architekturfotografen vielleicht verschiedene Wolkenhimmel oder haben mit etwas Grünzeug im Bildrand Atmosphäre erzeugt. Da geht natürlich heute mehr.“
Ja, genau, heute haben die Architekturfotografen viel mehr Möglichkeiten, Bilder zu „optimieren“ – und nutzen sie auch. Sie rücken in der Bearbeitung Perspektiven gerade, lassen Autos verschwinden … Gebäude werden so perfekt hergerichtet wie Models für ein Magazincover. Wie siehst du diese Entwicklung?
„Das ist eine zweischneidige Sache. Einerseits gibt es den möglichst ehrlichen dokumentarischen Anspruch. Andererseits wünscht man sich eine Perspektive, die nicht von Fahnenmasten oder Stoppschildern beeinträchtigt ist. Manche Gebäude, wie zum Beispiel Kinos, werden ja schon mit der Werbefläche geplant. Da gehören die Plakate und Lichtreklamen dazu. Prinzipiell finde ich es ästhetisch ansprechender, keinen störenden Schilderwald im Bild zu haben. Ein Fotograf ist in der Regel ja auch vom Architekten beauftragt und will den Bau möglichst schön in Szene setzen. An diese cleane Ästhetik haben wir uns gewöhnt und fordern sie dann auch ein. Der Fahnenmast oder der Kran im Hintergrund tun ja nichts für den Kontext oder das Verständnis des Gebäudes.“

Welche Fotografinnen und Fotografen schätzt du besonders? Wer vereint das Dokumentarische und Künstlerische am besten?
„Ich habe keine Lieblingsfotografen. Der erste Architekturfotograf, den ich wahrgenommen habe als Teenager, war Julius Shulman. Er hat ja sehr eng mit Richard Neutra gearbeitet, den ich damals interessant fand. Aber er hat auch ab den 50ern die amerikanische Westküste und später in der ganzen Welt Bauten des Modernismus fotografiert. Julius Shulman hat nicht nur hervorragende Fotos gemacht und die Architektur immer ganz ins Zentrum seines Schaffens gestellt, sondern auch immer noch ein bisschen auch den Lifestyle der Zeit mit eingefangen. Man sieht, er machte sich Gedanken über das Gebäude, geometrische Formen, die Sichtachsen, die das Gebäude ermöglicht, aber er blieb immer im Kontext und verfremdet das Gebäude nie durch die Perspektive. Shulman hat mich also sehr geprägt, und da bin ich auch froh drüber. In Deutschland waren es Sigrid Neubert oder Heinrich Heidersberger, die auf diese klare, dokumentarische Weise mit Licht und Schatten gearbeitet haben. Ich schätze auch die Arbeiten von Eberhard Tröger, der viel für Egon Eiermann gearbeitet hat.“
Die Fotografen hatten alle Glück, fällt mir auf, mit tollen Architekten zu arbeiten oder dort zu arbeiten, wo ein architektonischer Aufbruchsgeist zu spüren war. Es scheint auch eine Wechselwirkung zu geben.
„Ja, Architekten und ihre Fotografen haben teilweise lange Verbindungen gepflegt. Shulman und Neutra haben ewig lange miteinander gearbeitet, Tröger und Eiermann ebenfalls. Das sind sicher teilweise symbiotische Beziehungen. Wenn der Architekt sich vom Fotografen verstanden weiß, wird er ja gerne immer wieder mit ihm arbeiten.“
Nach dem Krieg haben sich auch einige Frauen mit starker visueller Handschrift im Metier der Architekturfotografie etabliert. Ich denke an Sigrid Neubert in München oder Margherita Spiluttini in Wien. Kürzlich zeigte das IKOB eine Schau über Irmel Kamp und ihre Bilder aus Brüssel und Tel Aviv.
„Neulich habe ich ein Buch über Karl Schwanzer gelesen, in dem es um die photographische Inszenierung seiner Gebäude vor allem im Süddeutschen und im Alpenraum geht. Er hat außer mit Margherita Spiluttini noch mit Lucca Chmel und Maria Wölfl zusammengearbeitet. Inge von der Ropp in Köln hat für die Stadt gearbeitet und damit unseren Blick auf das Nachkriegs-Köln stark geprägt.“

Gibt es denn auch heute Fotografinnen oder Fotografen, deren Arbeit du schätzt?
„Ich mag zum Beispiel Ivan Baan aus den Niederlanden sehr gerne für seinen individuellen Ansatz. Von ihm kenne ich Fotoessays, die ältere Gebäude im heutigen Kontext zeigen. Er bezieht die Menschen mit ein, die dort wohnen. Er zeigt das Leben, das dort stattfindet, Fahrradfahrer, Kinder, die auf der Straße spielen … Damit ergänzt er in einigen Buchpublikationen bauzeitliche Fotos, und das auf sehr spannende Weise. Baan kann beides: klassische, dokumentarische, pure Fotos – und Reportagearbeiten. Das gibt ein stimmiges Gesamtbild.“
Als Kind des Ruhrgebiets bin ich ja auch stark von Bernd und Hilla Becher geprägt. Ihre Arbeit wirkt sehr stark weiter: Es ist sogar auf Instagram heute ein Kompliment, wenn jemand sagt, dass ein Bild „becheresk“ aussieht. Wie schätzt du den Einfluss ihrer künstlerischen Arbeiten auf die Architekturfotografie ein?
„Mit ihren Serien und Typologien sind die beiden in erster Linie Konzeptkünstler. Aber sie haben natürlich wertvolle dokumentarische Arbeit geleistet, indem sie fotografiert haben, was dem Untergang geweiht war. Und sie haben die Serialität in den Köpfen der Menschen verankert, indem sie scheinbar unendliche Variationen über ein Thema fotografiert haben. Durch die Purheit ihrer Dokumentation haben sie einen großen Einfluss auf die Architekturfotografie gehabt.
Für mich gibt es auch einen Bezug zur Nachkriegsarchitektur. Denn da entstanden ja auch Gebäudetypen in vielen Varianten, die man auf Art der Bechers betrachten könnte. Als Beispiel fällt mir jetzt ein typisches 60er-Jahre-Hochhaus im Stil von Mies van der Rohe ein – vom Seagram Building in New York zum Iduna-Hochhaus in Münster. Architektur bezieht ihre Wertigkeit immer auch aus der Rezeption, und Moden schwappen über Grenzen von Ländern und Kontinenten. Anhand von serieller Betrachtung könnte man diesem Phänomen sicher besonders gut nachgehen.“
Titelfoto: Julius Shulman zeigt in seinen Architekturfotos auch gerne den Lifestyle der Zeit. In den Swinging Sixties macht das besonders viel Spaß. Im Bild: das Case Study House Nr. 22, das Architekt Pierre Koenig entwarf, 1960. © J. Paul Getty Trust. Getty Research Institute, Los Angeles (2004.R.10)