English summary below
Eine Siedlung für die Kumpel der nahe gelegenen Zeche? – Gibt’s im Ruhrgebiet quasi an jeder Straßenecke. Die kleinen, engen Häuschen, meist über 100 Jahre alt, werden heute als wertvolles architektonisches und industriekulturelles Erbe gepflegt und geschützt.
Aber eine Zechenkolonie der 70er Jahre? Das klingt doch mal richtig gut, oder? Architekturmoderne gepaart mit erweiterter Industriekultur … Los geht’s, coronabedingt mit dem Carsharing-Auto. Der Name Neue Stadt Wulfen sagt es schon: Es handelt sich um eine frisch geplante kleine Stadt, Wulfen-Barkenberg, ein Teil von Dorsten. Das steht mit einem Fuß im nördlichen Ruhrgebiet, mit dem anderen im Münsterland. Als der Ruhrbergbau begann, sich zu erschöpfen, wanderten die Zechen weiter nach Norden. Hier lagen die Kohlevorkommen tiefer, aber es gab noch viel Kohle zu gewinnen. So eröffnete auch die Zeche Wulfen Ende der 50er-Jahre. Für geplante 8.000 Kumpel und ihre Familien sowie Kumpel weiterer Zechen wurde Wohnraum benötigt. Und um der Zersiedelung der Landschaft vorzubeugen, ließ eine eigens gegründete Entwicklungsgesellschaft eine Stadt für bis zu 50.000 Menschen planen.
Grüne Stadt im Grünen, getrennte Verkehrswege waren in Mode
Den Städtebauwettbewerb gewann Prof. Fritz Eggeling, dessen Mitarbeiter seine Arbeit nach seinem Tod fortführten. Ihre Idee: eine grüne Stadt im Grünen, strukturiert von einer kreisförmigen Vorfahrtsstraße, von der man zu Parkplätzen und Tiefgaragen gelangt. Die verschiedenen Wohnungen und Häuser sind dann nur zu Fuß erreichbar. Kfz-, Fahrrad- und Fußgängerverkehr findet also in voneinander getrennten Bereichen statt und der Kraftverkehr ist so organisiert, dass er weitgehend ohne Ampeln auskommt.
Ein Stadtzentrum mit Einkaufsmöglichkeiten, Schule, Schwimmbad und Gemeinschaftshaus befindet sich an einem künstlichen See, der hohen Freizeitwert für Familien verspricht. Das Einkaufszentrum sowie ein Wohn- und Geschäftshaus im Innenstadtbereich stammen aus der Planung von Josef Paul Kleihues.
Renommierte Architekten und innovative Wohnformen
Auch bei der Planung der eigentlichen Wohneinheiten kamen renommierte Architekten zum Zug – und beziehungsweise oder solche mit innovativen Ideen. Es gibt klassische gestaffelte Reihenhäuser, Mehrparteienwohnhäuser, Großwohnanlagen und Bungalow-Gruppen. Zwei sehr markante Einheiten sind die so genannten Finnstädte – eine rote und eine dunkel verkleidete so genannte schwarze – der finnischen Architekten Toivo Korhonen und Lauri Sorainen. Die fünfgeschossigen kreuzförmigen Terrassenhäuser, die zwischen 1969 und 1975 entstanden, stehen noch heute gut da und erfreuen sich offenbar großer Beliebtheit.
Ebenfalls ein imposanter Bau ist das so genannte Habiflex-Wohnhaus mit 40 Wohneinheiten der beiden Gelsenkirchener Architekten Richard Gottlob und Horst Klement. Der Siegerentwurf eines Wettbewerbs zum Thema „Flexible Wohnungsgrundrisse“ besticht durch eben das: verschiebbare Wände, umnutzbare Balkone, die auch als Wintergarten dienen konnten. Die Idee lautete, dass die Bewohner ihre Fläche je nach Bedarf neu gestalten konnten. Ein phantastisches Konzept, das eigentlich heute immer noch für Begeisterung sorgen müsste. Aber „bauphysikalische Mängel“ sorgten dafür, dass sich das „Kondenswasser-Wunder“ nach und nach leerte und seit zwölf Jahren ungenutzt und überwuchert herumsteht. Sehr bedauerlich!
Schneller „Rückbau“ für die hochgelobte Metastadt
Ein weiteres Renommierobjekt, die so genannte Metastadt, ereilte noch rascher ein schneller Tod: Nur zwölf Jahre nach der Eröffnung wurde der Komplex aus 100 Wohnungen und Gewerbeflächen schon 1987 wieder abgerissen. Die flexible Fertigbauweise war noch nicht ausreichend ausgereift gewesen. Hier gibt es einen längeren Artikel dazu – faszinierend.
Die Modellstadt Wulfen-Barkenberg hat heute noch rund 12.000 Einwohner – weniger als ein Viertel der ursprünglich geplanten Zahl. Schon in der Bauphase war der städtebauliche Plan wohl immer wieder reduziert und angepasst worden. Das Ergebnis: Eine luftige, entspannte Stadt ohne erkennbare Parkplatzsorgen, in der gelegentlich ein Auto vorbeifährt oder mal eine Seniorin mit ihren Hunden spazieren geht. Der Baumbestand ist wunderbar, hatte man doch schon zu Bauzeiten aus Umweltschutzgründen die vorhandenen Baumgruppen erhalten. Und noch eine, diesmal eher zeitgeistige, Innovation in Sachen Umwelt: Damals ganz modern sollte aus keinem der Schornsteine Rauch aufsteigen, sondern die gesamte Neue Stadt Wulfen elektrisch beheizt werden.
Open-Air-Museum für Architektur und Städtebau der 70er
Glaubt man einer schnellen Google-Recherche, fühlen sich die Einwohnerinnen und Einwohner nicht sicher – auch, weil die Polizeistation nachts nicht besetzt ist. Als ich Fotos vom leerstehenden Einkaufszentrum machte, fuhr sehr langsam ein Polizeiauto vorbei. Zwar gefällt mir die Entspanntheit der unterbesetzten Stadt, aber mir fiel beim Erkunden schon auch auf, dass manche der Fußwege überwuchert und uneinsehbar sind. Als Frau gefällt mir der Gedanke nicht, da nachts langgehen zu müssen. Manche der flachen Bungalows sind auch eingezäunt und gesichert wie ein Hochsicherheitsobjekt …
Mein Fazit: Ein Open-Air-Museum für 70er-Architektur, dessen Besuch sich lohnt. Die Atmosphäre ist etwas eigen, auch weil man sich mal nicht durch Reihen eng geparkter Autos kämpfen muss beim Erkunden. Falls jemand aus Wulfen das hier liest, freue ich mich über Nachricht. Mich würde interessieren, wie es sich dort lebt.
Weiter, immer weiter … wer noch mehr wissen will, für den gibt’s hier Links:
- Ganz großes Kino: Sechs kurze Clips aus der Bau- und Eröffnungszeit stellen Wulfen und seine Macher vor. Am besten mit Fluppe und einem Glas Cognac gucken.
- Gebäude der Wirtschaftswunderzeit im Ruhrgebiet stellte im vergangenen Jahr das Projekt Big Beautiful Buildings (BBB) vor. Hier geht’s zur Würdigung von Wulfen insgesamt. Einzelbeiträge gibt es auch für das Habiflex und die rote Finnstadt.
- „baukunst-nrw“, der Internetführer zu Architektur und Ingenieurbaukunst in Nordrhein-Westfalen, widmet Wulfen ebenfalls einen Eintrag.
- Wer mehr über die lokalpolitischen Hintergründe wissen will, ist hier beim Coolibri richtig.
Summary
A classic New Town on the northern brink of the Ruhr area: Neue Stadt Wulfen was planned as a home for 50.000 people, miners and their families. Starting point was the opening of new mines in the region from the 50s onwards, once the mines on the Ruhr were exhausted and closed. Neue Stadt Wulfen features some classic 70s developments including separation of road infrastructure for cars, bikes and pedestrians, but also a handful of highly innovative buildings such as Habiflex with movable walls for flexible use of the living space. Today, only ¼ of the planned number of inhabitants lives in Wulfen New Town – a relaxed, but also slightly eerie place. Imagine: no car park shortage! English language article here.