Das Diktum von der „freien und Abrissstadt Hamburg“ ist schon älter, aber wie es scheint noch erschreckend aktuell. Besonders die Bauten des 20. Jahrhunderts genießen derzeit noch wenig Wertschätzung, so mein Eindruck. Ein Brief an eine schöne Stadt, die ihre Seele wegsaniert. Und ein paar Fotos natürlich auch.
Ach Hamburg! Mir scheint, als läge dir dein architektonisches Erbe nicht sonderlich am Herzen. Zumindest nicht, wenn es aus dem 20. Jahrhundert stammt. Vor vier Jahren war ich zum letzten Mal zu Besuch und – schwupps – sind schon wieder einige identitätsstiftende gebaute Wahrzeichen verschwunden – trotz engagierten Protests unter anderem von Denkmalschützer*innen. Während meines Besuchs im Oktober dieses Jahres begann der Abriss einer gestalterischen Ikone, der Cremon-Brücke, obwohl die Öffentlichkeit den postmodenen und etwas exzentrischen Bau gerne behalten hätte (wer würde das nicht – Open-air-Rolltreppen sind einfach total gut). Das stromlinienelegante Deutschlandhaus am Gänsemarkt – kaputt, trotz nicht langer zurückliegender Sanierung. Die majestätische Postpyramide – weg, und brutalistischen Nachbargebäuden in der City-Nord, zum Beispiel dem Postamt 60 von Anfang der 70er-Jahre, geht es jetzt auch an den Beton.


Katastrophen und Kahlschlag, Zerstörung und Neuaufbau
Naja, ich verstehe schon: Du hast dich im Laufe der Jahre immer wieder neu erfinden und radikal an neue Gegebenheiten anpassen müssen. Die Auslöser waren vielfältig, Katastrophen und auch hausgemachter Kahlschlag. Das habe ich beim Besuch Museums für Hamburgische Geschichte gelernt. Die engen, unhygienischen Gängeviertel zum Beispiel, die einst dein Herz und Zentrum bildeten, mussten einfach irgendwann weg – die Menschen wurden dort krank. Es entstanden neue Viertel, neue Gebäude, die wir heute wiederum historisch wertvoll finden. Es gab Brände, es gab Fluten – immer wieder Zerstörung und Neuaufbau.

NS-Stadtplanung, Weltkriegs-Feuersturm und Wiederaufbau
Hitler fand dich „amerikanisch“ und wollte dich zur „Führerstadt“ ausbauen. Die Planungen waren megaloman. Vieles von der Planung der Nazis kann man im Stadtbild noch finden – zum Beispiel Siedlungen und Verkehrsachsen. Der zweite Weltkrieg brachte verheerende Bombardierungen. Besonders traumatisch der Juli 1943, als alleine in einer Nacht 100.000 Spreng- und Brandbomben fielen. 40.000 Menschen starben in diesem Sommer; 750.000 verloren ihre Wohnungen. Jede zweite Wohnung, jedes zweite Haus war zerstört. Nach dem Krieg wurde es erstmal nicht leichter für die Bevölkerung, es folgten Hungerwinter und Leben in Ruinen und Nissenhütten. Die Nachkriegsbebauung – eine enorme soziale Leistung! – und die Stadtplanung der Nachkriegszeit prägen dein Angesicht bis heute.


Kranenballett: Jährlich entstehen 10.000 Wohnungen
Und weil du eine schöne Stadt bist und weil die Leute gerne in dir leben wollen, geht es auch im 21. Jahrhundert wieder ums Thema Wohnen. Im Deutschlandfunk lerne ich, dass jedes Jahr 10.000 Wohnungen entstehen sollen. Ich habe gesehen, wo überall die Kräne ihr Ballett aufführen, wo gebaut wird. Erfreulich: Es entstehen auch richtig viele Sozialwohnungen. Ich bewundere, dass du das hinbekommst. In vielen Städten steckt nicht so viel systematische Energie in den Baubemühungen.
Wahrzeichen verschwinden, eine Stadt lässt sich botoxen
Aber gleichzeitig bin ich Sorge. Denn ich finde Städte vor allem schön und interessant, wenn Altes und Neues nebeneinanderstehen darf, und auch Mittelaltes respektiert wird. Ich habe den Eindruck, liebes Hamburg, dass dir diese einfache Weisheit ein bisschen aus dem Blick gerät. Denn Wahrzeichen und Alteingesessenes müssen in deiner Planung verschwinden. Zum Beispiel das weltbeste Backfischrestaurant auf einer Industriebrache, wo kauzige Besucher*innen an resopalbeschichteten Tischen sitzen und die aus der Zeit gefallene Atmosphäre genießen. Zum Beispiel eine der ältesten Sportstätten Deutschlands, die Adolf-Jäger-Kampfbahn in Altona. Zwei klitzekleine Beispiele für identitätsstiftende Strukturen, die einer Stadt guttun.


Neue Quartiere – erstmal Orte ohne Charakter
Es muss auch mal unlogisch sein, vielleicht auch unökonomisch. Es reicht nicht, jedem Neubauviertel am Wasser einen geretteten Kran aus dem Winkel des Hafens hinzustellen. Das funktioniert nicht in Serie – es ist geradezu herzlos, pseudo-historische Artefakte zu pflanzen wie junge Bäume. Naja, ich will nicht so sein, vielleicht wachsen die Kräne irgendwann an und schlagen Wurzeln, wie das neu gepflanzte Grün. Vielleicht wird man nach so vielen Häutungen und Neustarts ein bisschen hartherzig – so nach dem Motto „Nichts ist ewig“. Aber jetzt mal unter uns: Wenn das so weitergeht, verlieren die Leute doch den Spaß an dir. Bist du sicher, dass „Quartiere“ voller Systemgastronomie eine gute Lösung sind, wenn die Spuren gelebten Lebens, quasi die Baumringe deiner großartigen Entwicklung, nach und nach verschwinden, saniert und gebotoxt werden?

Zugegeben, nicht ganz mein Beuteschema, aber ich war fasziniert. Die so genannte Schilleroper ist der letzte fest installierte Zirkusbau Deutschlands aus dem 19. Jahrhundert. Bis vor Kurzem war sie umringt von Nachkriegsprovisorien, geschützt von Wellblechplatten und man konnte die Konstruktion nicht sehen. Nun wird das Originalgestell freigelegt und ich hoffe sehr, dass was Gutes damit passiert. Wikipedia zeichnet die vielfältigen Nutzungen und die wechselvolle Geschichte des Rundbaus nach.
Was bleibt von der Geschichte?
Bei meinem Besuch im regnerischen Oktober 2021 habe ich einige Orte aufgesucht, deren Fortexistenz unsicher ist. Die Liste der gefährdeten Bauwerke des Denkmalvereins Hamburg e. V. war mir dabei ein nützlicher Wegweiser. Kundige Begleitung und super Infos erhielt ich von Frank Strutz-Pindor. Danke dafür schonmal an dieser Stelle! Und zum Glück gibt es ja auch solche Nachkriegsbauten, die gut in Schuss und eine wahre Freude sind. Dennoch bleibt das Gefühl, bald wiederkommen zu müssen und zu dokumentieren, was noch alles verschwinden soll – die Liste ist nämlich erschreckend lang.
So viel Erbe zu zerstören, wäre ein bisschen betrüblich, oder? Horch nochmal in dich hinein, großartiges Hamburg, ob es nicht ganz schön wäre, wenn ein bisschen Wirtschaftswunderseligkeit, ein bisschen Technikeuphorie und brutalistische Majestät fortbestehen würden. Immerhin hast du es ja geschafft, die Struktur der autogerechten Stadt schön aufrechtzuerhalten. Ausgerechnet den Aspekt der zurückliegenden Planungen, der ganz, ganz schnell geändert gehört. Aber das ist wiederum eine andere Geschichte …









Summary
The dictum of the „free and demolition city Hamburg“ is already older, but as it seems also still frighteningly topical. Especially some of the buildings from the 20th century seem acutely threatened by demolition. Personal observations from a beautiful city that is ‚redeveloping‘ its soul. And photos from stays there in 2017 and 2021.